Geheimnisse der Grätenwälder
Kunsthaus Apolda: Max Ernst - Traumlandschaften
Das Kunsthaus Apolda in der thüringischen Provinz, fernab von allen Zentren der modernen Kunst, wartet einmal mehr mit einem Highlight auf: der bedeutendste deutsche Surrealist Max Ernst wird als Landschafter präsentiert. Das ist allemal eine kleine Entdeckung, bringt man diesen Maler, Zeichner und Bildhauer doch sonst eher mit anderen Motiven in Verbindung. In Apolda hielt man sich konsequent an das gewählte Thema »Traumlandschaften« und zeigt sehr vielfältige Arbeiten - auch kleineren Formats und auf Papier -, die sonst selten zu sehen sind.
Dabei werden ganz bestimmte Charakteristika in Ernsts Werk deutlich, die man bei einer breiter gefächerten Überblicksschau leicht übersehen könnte: zum Beispiel die Tendenz zur Serie, um spezielle Motive und Themen zu variieren und so umfassender dazustellen, oder das Zurückdrängen einer gestisch-individuellen Handschrift. Allerdings steckt trotz der »Ent-Individualisierung« immer noch so viel Eigenes und Typisches in den Bildern, dass sie dem Meister klar zuordenbar sind, obwohl sich kaum solch symbolhaft-skurrile Erfindungen mit nahezu markenbildendem Wieder-Erkennungswert finden lassen, wie sie beispielsweise Dalis weiche Uhren darstellen.
Max Ernst gilt als der innovativste Maler unter den Surrealisten, der die Forderung André Bretons, des selbst ernannten Chefs der Gruppe, nach dem »automatischen Arbeiten« am konsequentesten umsetzte. Zwar war dieser Grundsatz ursprünglich nur auf das Schreiben bezogen und sollte darauf zielen, das Bewusstsein als Kontrollinstanz beim »Kunstmachen« auszuklammern, damit wie im Traum neue - unbewusst erzeugte - Zusammenhänge und Sinngebungen erschaffen werden können, aber Ernst fand ganz eigene Mittel und Wege, diese Prinzipien in seine Arbeiten einfließen zu lassen.
1891 in Brühl bei Köln geboren, wurde der Künstler durch seinen Vater schon früh an die Kunst und das Malen herangeführt. 1910 schrieb er sich an der Bonner Universität, allerdings für Altphilologie, Philosophie, Psychologie und Kunstgeschichte, ein. Auch später blieb er Autodidakt, was die Praxis des Kunstherstellens anging. In Bonn bekam Max Ernst ersten Kontakt zu Künstlerkreisen durch die Freundschaft mit August Macke. Bereits 1913 stellte der studierte Kunst-Theoretiker aber in Berlin im »Ersten Deutschen Herbstsalon« von Herwarth Walden aus. Diese Karriere wurde durch den Krieg unterbrochen, den der Maler teilweise als Frontsoldat erlebte.
Schließlich nach Kriegsende konnte sich Ernst wieder intensiv künstlerisch betätigen und baute seine Kontakte zu Kollegen, speziell zu der sich entwickelnden Dada-Szene in Deutschland und der Schweiz aus. Auch er arbeitete in dieser Zeit nach den Dada-Prinzipien, Kunst und Wirklichkeit zu vermischen, der Kunst die Schwere und weltverändernde Bedeutungshaftigkeit abzusprechen und ebenso die schöne Oberfläche zu meiden. Dazu wählte er, wie viele andere Künstler-Kollegen in dieser Nachkriegszeit auch, die Collage als gestalterisches Mittel. Diese bringt, wie keine andere Technik, Realität direkt in die Kunst, d.h. die Fragmente der Wirklichkeit werden neu geordnet - nun aber in einem künstlerischen Zusammenhang. Gleichzeitig tritt das »geniehafte« Künstler-Individuum in den Hintergrund.
Die frühen Werke, in denen Ernst die Collage als gestalterisches Mittel nutzte, klammert die Ausstellung aus. Sie setzt erst ab 1925 mit den so genannten »Histoire Naturelle« ein, grafischen Blättern in Frottage-Technik. Trotzdem war die Beschäftigung mit der Collage, d.h. das Zitieren und Montieren von vorhandenen Bildern oder Strukturen, so etwas wie die Voraussetzung für die Entwicklung der Frottage. Letztere wiederum ist ein Durchreibe-Verfahren, bei dem ebenfalls vorhandene Strukturen wie Holzmaserungen auf ein Blatt durch direktes Abreiben übertragen werden. Ähnlich der Collage werden also vorgefundene Dinge benutzt und in neue Zusammenhänge gestellt. So konnte der Künstler bestimmte Sehweisen, Assoziationen und Halluzinationen bildlich umsetzen, ohne selbst direkt Formen erschaffen zu müssen: Er wählte also aus und setzte neu zusammen und machte damit etwas sichtbar; eben ganz im Sinne des Surrealismus. So stellten die Durchreibe-Verfahren - später entwickelte Max Ernst ein weiteres für die Ölmalerei, die so genannte Grattage - für den Maler eine adäquate Alternative zur Collage dar, die sogar noch mehr gestalterische Freiheit zuließ, weil die Ursprungsstruktur beliebig oft abpausbar war. Diese Möglichkeiten erkundete der Surrealist in den Blättern der Histoire Naturelle. Zum Teil parallel dazu arbeitete er in Öl mit ähnlichen Motiven - der Wald in allen denkbaren Variationen ist dabei das wichtigste.
Im Kunsthaus sind diese verschiedenen Phasen nach Sujet und gleichzeitig chronologisch geordnet. Recht hilfreich sind die erklärenden Artikel, die die teilweise beunruhigend-sperrigen Bildgegenstände wie die »Grätenwälder« in einen Kontext bringen. Die obere Etage ist den Werken ab etwa den 1940er Jahren gewidmet, die u.a. eine andere von Max Ernst weiterentwickelte Technik zeigt, die Décalcomanie. Bei diesem Verfahren wird dünnflüssige Farbe auf einem Blatt verteilt, ein weiteres Blatt oder andere Gegenstände darauf gelegt und schließlich abgezogen. Die so entstandenen Farbenstrukturen und -konturen bilden den Ausgangspunkt für die künstlerischen Arbeiten. Auch bei dieser Technik wird eine gestisch-individuelle Handschrift zurückgedrängt, Zufälle, d.h. vom Bewusstsein unkontrollierte Ereignisse sind Teil der Gestaltung. Mit diesem Verfahren und unter dem Eindruck der amerikanischen Nationalpark-Landschaften schuf der Künstler so farbstrahlende Landschaftsbilder wie nie zuvor. Trotz der so lebensfrohen Farbgebung wirken diese Gemälde etwas jenseitig-steif, überirdisch und wie aus einem Traum. Das mag damit zusammenhängen, dass Persönliches im Sinne einer Handschrift zurücktritt, manches technoid kühl, eckig und spitzig erscheint, anderes dagegen wie niedrig entwickelte organische Lebewesen unter dem Mikroskop. Auch die Komposition widerspricht zum Teil den üblichen Landschafts-Sehgewohnheiten. Zu diesen gleichzeitig anziehenden und sich dann zurückziehenden Arbeiten Zugang zu finden, ist nicht immer ganz einfach, kann man sie doch gleichwohl auch nicht so »konsumieren« wie die bestechende Dalische Detailmalerei.
In weiteren Grafikserien aus den 1960er Jahren, zum Beispiel Probedrucke zu »Maximiliana oder die unrechtmäßige Ausübung der Astronomie«, die die Schau abrunden, kommt das seriell-technoide, vermeintlich wissenschaftliche Sehen und Darstellen ebenfalls zum Vorschein. Zusatz und Ergänzung der Ausstellung sind schließlich einige Fotografien, die Max Ernst in seinen Lebens- und Arbeitsräumen zeigen und manches Persönliche offenbaren - und nicht zuletzt etwas über sein Verhältnis zu Frauen aussagen; der Meister war mehrmals verheiratet, u.a. mit Peggy Guggenheim.
Insgesamt ist eine interessante Exposition gelungen, die von bisher selten präsentierten Arbeiten lebt. Dadurch wird das Licht auf ganz andere Seiten des Künstlers geworfen und manche Entdeckung wird möglich. Die Schau, die im letzten Quartal des Jahres noch nach Hamburg ins Ernst-Barlach-Haus weiterzie...
Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.