Lange bekannt, lange verschwiegen

Vor 65 Jahren: Das Geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt

  • Günter Rosenfeld
  • Lesedauer: 5 Min.
Als in der Nacht zum 24. August 1939 der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten W. M. Molotow, damals engster Vertrauter Stalins, und Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop einen auf die Dauer von 10 Jahren befristeten Nichtangriffsvertrag zwischen der Sowjetunion und Deutschland unterzeichneten (er wurde auf den 23. August zurückdatiert), wussten nur wenige, unmittelbar daran beteiligte Personen, dass zum Vertrag auch ein Geheimes Zusatzprotokoll gehörte. Es beinhaltete die »Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa«. Danach sollten »für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung« mit Ausnahme Litauens, das Deutschland zufiel, die baltischen Staaten (Finnland, Estland und Lettland) zur sowjetischen Interessensphäre gehören. Hinsichtlich Polens wurden die Interessensphären »ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San« abgegrenzt. Dabei wurde die Frage, ob die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates als »erwünscht« erschien, dem »Lauf der weiteren politischen Entwicklung« überlassen. Schließlich wurde hinsichtlich Südosteuropas das sowjetische Interesse an dem damals zu Rumänien gehörenden Bessarabien betont. Das Vertragswerk, das in den folgenden Monaten durch weitere Geheimabkommen ergänzt und präzisiert wurde und von dem jede Seite jeweils ein maschinenschriftliches deutsch- und russischsprachiges Exemplar erhielt, hatte schwerwiegende Folgen. Denn es gab Hitler die gewünschte Rückendeckung, als er eine Woche später Polen überfiel, wenn es auch, entgegen Hitlers Erwartungen, den Kriegseintritt Großbritanniens und Frankreichs nicht verhinderte. Die Beteiligung der UdSSR an der Aufteilung Polens durch den Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen am 17. September, der Winterkrieg der UdSSR gegen Finnland, die Annexion der baltischen Staaten sowie die Angliederung Bessarabiens an die UdSSR nach der Niederwerfung Frankreichs durch die Hitlerwehrmacht ließen schon damals aufmerksame Beobachter geheime Abmachungen zwischen Hitler und Stalin vermuten. Als dann bei Kriegsende ein Mikrofilm mit dem Text des Nichtangriffsvertrages und des Geheimen Zusatzprotokolls sowie anderer damit im Zusammenhang stehender Akten der Hitlerregierung an die Öffentlichkeit kam, erhielt man die dokumentarische Bestätigung bisheriger Vermutungen: Der Legationsrat Karl von Loesch hatte entgegen der am 10. April 1945 ergangenen Weisung Ribbentrops, nach Mühlhausen in Thüringen ausgelagerte wichtige Akten und deren Mikrofilme aus der Nazizeit zu vernichten, eine Filmrolle vergraben. Sie enthielt die Kopien von Akten über die deutsch-sowjetischen Beziehungen 1939 bis 1941, darunter auch des Nichtangriffsvertrages mit dem Geheimprotokoll. Der Legationsrat übergab den Film sodann den westlichen Alliierten, die seinen Inhalt alsbald im beginnenden Kalten Krieg gegenüber der UdSSR nutzten, ihn jedoch auch der Forschung zugänglich machten. Die Veröffentlichung des Geheimprotokolls auf der Grundlage des aufgefundenen Mikrofilms (das Original musste als vernichtet gelten) hinderte die sowjetische Führung und die von ihr kontrollierte Geschichtsschreibung nicht, noch bis zur Perestroika Gorbatschows die Existenz des Geheimprotokolls zu leugnen. Eine vom Kongress der Volksdeputierten der UdSSR eingesetzte Kommission bestätigte dann zwar offiziell im Dezember 1989 die Echtheit der genannten Kopie des Geheimprotokolls und verurteilte das Abkommen Stalins mit Hitler als einen Akt der Willkür. Das Original des Vertrages mit dem Protokoll galt nach Auskunft der Kommission jedoch als unauffindbar. Dieses lag nun freilich noch immer wohlverwahrt im Archiv des Politbüros des ZK der KPdSU, dem heutigen Präsidentenarchiv. Erst am 29. Oktober 1992 wurde das im sowjetischen Besitz befindliche Original des Nichtangriffsvertrages mit dem Geheimprotokoll zusammen mit anderen bisher verschlossen gebliebenen Dokumenten als »aufgefunden« erklärt. Der heute in Aachen lebende Historiker Jan Lipinsky hat in einer im Jahre 2000 in Bonn als Dissertation und nunmehr auch als Buch veröffentlichten Forschungsarbeit die Entstehungsgeschichte des Geheimen Zusatzprotokolls, seine Auswirkungen auf das Schicksal der Völker Osteuropas sowie seine Aufnahme und Bewertung in West und Ost bis zu unseren Tagen nachgezeichnet. In umfassender Weise wertete er hierfür archivalische und gedruckte Quellen sowie die entsprechende Literatur aus. »Formal im Wortlaut durch Deutschland, inhaltlich bis auf das polnische Problem durch die Sowjetunion bestimmt und von dieser als Dokument vorgeschlagen, entstand das auf territoriale "Umgestaltung" und damit auf Aggression und Krieg zielende Geheime Zusatzprotokoll als Kernstück der deutsch-sowjetischen Verständigung. Ribbentrop und Molotow unterschrieben es nicht für den vagen Fall, dass eine diplomatische Lösung der Polenfrage scheitern würde, sondern in Kenntnis und Hoffnung, dass es einen raschen, zumindest kurzfristig und teilweise lokalisierten Krieg ermöglichen werde. Es war nicht rein theoretischen Inhalts, sondern stellte eine praktisch umzusetzende Aggressionsanleitung zur Einverleibung souveräner Staaten dar, indem in ihm die Unterzeichner ihre Eroberungsansprüche durch die Bezeichnung von "Interessensphären" festschrieben.« So urteilt der Verfasser. Geradezu wie eine Kriminalgeschichte lesen sich die Ausführungen über das Schicksal der von der deutschen und der sowjetischen Regierung aufbewahrten Exemplare des Nichtangriffsvertrages mit dem Geheimprotokoll. Großes Interesse erweckt auch das Kapitel über den Nürnberger Prozess, auf dem der Anwalt Alfred Seidl bei der Verteidigung seiner Mandanten Ribbentrop und Heß den inzwischen ihm zugänglich gewordenen Text des Geheimprotokolls auszuspielen suchte, während sich der sowjetische Hauptankläger Rudenko bemühte, die Erwähnung des Protokolls aus dem Gerichtsverfahren auszuklammern. Mit großer Akribie untersuchte Lipinsky die sich seit dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte hinstreckende und wesentlich auch durch den Kalten Krieg beeinflusste Protokolldiskussion in der UdSSR sowie in den von ihr abhängigen osteuropäischen Staaten. Auch den entsprechenden Diskussionen und Auseinandersetzungen in der DDR ist Lipinsky nachgegangen. Sie schwankten zwischen Verschweigen, Relativierung und Rechtfertigung des Geheimprotokolls. Wie Lipinsky nachweist, waren es die polnischen Historiker, die in den Staaten des Ostblocks bei der Aufdeckung der Wahrheit vorangingen. Jeder, der sich mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag und seinen Auswirkungen beschäftigt, wird künftighin zu diesem höchst informativen Buch greifen müssen. Jan Lipinsky: Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999. Peter Lang Verlag, Frankfurt (Main) 2004. 656S., geb., 97,50 EUR. Prof. Rosenfeld sprach bereits Anfang der 50er Jahre an der Humboldt-Universität über das Geheimprotokoll.
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