Damals in Drispeth

Joachim Seyppel

Wirkt die Zeit in Drispeth heute verklärt, und was geht in mir vor, wenn ich aus der Ferne an damals denke? Ist dieser Flecken nicht herausgegurgelt gleich einer Luftblase im Moor? Bauten hier Arbeiter Torf ab für Gärtnereien oder für die Nationale Volksarmee als Filter in Gasmasken? Erinnere ich mich richtig, dass sie nebenbei Kreuzottern fingen gegen Prämie, das Gift verwendbar für Rheumasalbe? Hätte der Torfwerkwächter den verbotenerweise im Teich badenden Maler Willy Günther nicht gern absaufen lassen? Arbeiterkinder und alte Leute pflückten auf den Feldern ringsum Kamille, Salbei, Minze für Tee. Die LPG Thomas Müntzer erntete Getreide, Rüben, Kartoffeln, Kohl, betrieb Viehwirtschaft und visierte das Planziel an - landwirtschaftliche Autarkie -, bei Löhnen, die ausreichen mochten zum Kauf preisgünstiger Bücher in der Gegend hausender »Intelligenz«. Einer davon, Wolf Spillner, zugewandert, war in Wendisch Rambow 3 km von Drispeth auf eine leere Fischerhütte gestoßen, hatte Stuhl, Pritsche, eisernen Ofen reingestellt, fotografierte noch nachts aus dem Versteck auf Inseln im Dambecker See die Vogelwelt und schrieb zu den Bildern Texte: »Land unter dem Wind«. Sein Freund, Claus B. Schröder aus Schwerin, übernahm anderthalb Fußstunden entfernt in Dambeck ein gammliges Landhäuschen und erkundete per Roman, wie es »Barfuß durch die Wiesen« ging ... Dann war, gegen jede Erwartung, im Auto ein »Türke« (so Schröder über Thomas Nicolaou) angefahren, der hatte mit Großeltern vor zwei Jahrzehnten nach dem griechischen Bürgerkrieg (Vater erschossen, Mutter zurückbleibend) Asyl in Leipzig erhalten und studiert. Auf Suche nach Romantik luchste er in Drispeth Ausbau dem Waldbauern den Märchenhof ab für 3500 Mark der DDR und übersetzte nobelpreisverdächtige griechische Lyrik. Unsereinem, just aus Westberlin einer Liebesgeschichte wegen zum Prenzlauer Berg übergesiedelt, ward die vom Besitzer verlassene Häuslerei angeboten und als Zweitsitz erworben. Eine Idylle, die Nr. 3 Am See. »Hier kannst Du besser arbeiten als bei dem Rummel in Berlin!«, befand Fred Wander, als er mit seiner Frau Maxie zu Besuch kam. Betrieben wir Stadtflucht? »Macht schöner unsre Dörfer!«, verkündete die Bürgermeisterin und ließ nach einem Einbruch im Konsum (mit viel Schnaps) die schöne alte eichene Tür durch Plastik ersetzen. »Vandalismus« schimpfte der Grieche. Im Archiv Schwerin fand sich die erste Erwähnung von Drispeth, 1273, Besitz des Klosters Doberan, Ablieferung des Zehnten an die Zisterzienser-Mönche. Unser Backsteinbau vor hundert Jahren von Webern errichtet, Abtritt beim Stall, Wasser per Pumpe aus dem tiefen Brunnen. Solide Kachelöfen, Brennholz aus dem Wald und Braunkohle aus der Lausitz. Marder und Hornissen zwischen Dachbalken, Salamander in der Speisekammer, Schwalbennester an der Werkstattdecke, Hummeln im Schuppen. Bei häufigem Stromausfall nutzten wir die Petroleumfunzel. Im Februar schnitt man auf dem Eis des Sees Schilfrohr. Vereinzelt Telefon, Notruf in der Schenke. Krankenschwesterbesuche einmal die Woche, Arztpraxis 10 km weit weg wie Bahnhof und Schule. Bus? Wochentags drei Mal. Fahrrad und Gummistiefel beste Verkehrsmittel. Post? Unregelmäßig. Eher unerwartet die Warnung vor Tollwut bei Füchsen. Das Verbot des Angelns (Hechte, Karauschen - jeder Bub angelte natürlich). Wilderer stellten Rotwild- und Biberfallen. Die Schweinemast kippte meilenweit Gülle auf die Saat. Agrarflieger versprühten Pestizide. Ein Lagerverwalter verbrannte Ölrückstände. Und die Schriftsteller besuchten einander schon vormittags. Spillner freilich stellte am Gatter eine Tafel auf »Besuch ab 17 Uhr«. Werner Lindemann opferte Zeit, Geld, Kraft, um im Vorwerk einen leer stehenden Fachwerkbau vor LPG-Bulldozern zu retten, »organisierte« beim VEB die Bretter für morsche Dielen und revanchierte sich mit Gedicht- oder Kinderbuch. Maler Willy Günther nistete im Taubenschlag-Atelier an der Dorfstraße und stellte aus in der Galerie Strausberger Platz Berlin. Helga Schubert siedelte in Neu Meteln gegenüber Christa Wolf, Klatsch sah in ihnen Rivalinnen. Joochen Laabs und Daniela Dahn restaurierten in Richtung Dambeck ein größeres Gehöft. Neben stillgelegter Windmühle arrangierte ein dilettierender Bildhauer Freilichtkonzerte, dekolletierte Damen lauschten frierend und mückenzerbissen Paganini, Mähdreschern und Abendglocken des gotischen Kirchleins. Nebenbei stöberten wir bei Bauern Barocktruhen auf (5 Mark das Stück), gegen Holzwurm mit Gift zu bepinseln. Der Tischler zimmerte uns Doppelfenster gegen Westgeld. Im Bewusstsein blieb der »Klassenfeind« nah, Lübeck nur 50km nordwestlich Richtung Eiserner Vorhang. Einen Fernseher besaßen wir nicht, umso größere Aufmerksamkeit fanden Gerüchte. Aber ging es uns nicht vornehmlich darum, eine produktive Existenz zu führen? Da wir von der Warnung des gut informierten Jurek Becker an den Freund Biermann wussten, er solle nicht auf Westtournee gehen, man werde ihn nicht zurück ins Land lassen, überraschte uns dessen Ausbürgerung nicht. Doch die Empörung war groß. Gewiss, er hatte auch Feinde, seiner Überheblichkeit wegen, seines Selbstbezugs. Er und ich aus dem Westen gekommen, allerdings mit sehr unterschiedlichen politischen Ideen. Nun konnte er am Rhein wieder öffentlich singen, nach provozierter Ausbürgerung. Ganz anders lag der Fall bei Jurek Becker. Der Verband in Berlin vermeldete im Mitteilungsblatt: »Austritt, Jurek Becker«. In der DDR? Sich selbst Berufsverbot erteilend? Konnte das wahr sein? Das Ehepaar Wolf las kopfschüttelnd bei uns den Durchschlag eines Offenen Briefes, den ich an die »Frankfurter Rundschau« geschickt hatte. Günter Kunert veröffentlichte eine Stellungnahme in der »Zeit«. Das Land, eine Gerüchteküche. Sarkastisch wurde unsereiner von Dorfbewohnern »Rotsocke« geschimpft. Tatjana - aus der Übertritts-»Liebesgeschichte« war längst eine Lebensgemeinschaft geworden - wurde eine Zeit lang für eine Tochter Honeckers gehalten. Skat, Schwof, Klatsch in der Schenke. Eier von des Nachbarn Hühnern, Gemüse aus dem Küchengarten, was fehlte? Der Bullenzüchter, Alkoholiker, ging nicht zur Wahl, die Partei wollte 99,3 Prozent für die Nationale Einheitsfront und drohte mit Verbot von Kneipenbesuch ... Der Sohn des Züchters verweigerte den NVA-Grenzwaffendienst.Beim Einkauf in Grevesmühlen mit Rucksack steckte uns die Vopo in Haft, in Grenznähe Verdacht auf Republikflucht ... Bei Erinnerungen beschleicht mich ein Gefühl, alles wäre das alles nur Traum. Der »Abschnittsbevollmächtigte« auf Motorrad ums Haus kurvend. Robert Havemanns Hausarrest. Wieder schreiben wir einen Offenen Brief an die »Frankfurter Rundschau«. Kurt Hager (werden wir später in den »Gauck-Akten« lesen) sprach mit Honecker und Mielke ab, »öffentlich zu antworten«. Er tat dies in der »Weltbühne« Ostberlin und in der »UZ« der DKP Düsseldorf. Und als mir die Nachbarin mit Fernseher zuflüstert, Havemann sei »frei«, Triumph - wir haben etwas bewegt. Der Leiter des »Zirkels schreibender Arbeiter« im Plastwerk Schwerin macht uns seine Aufwartung zwecks Spitzelberichten. Mein Roman-Manuskript »Die Wohnmaschine« nimmt der Aufbau Verlag nicht; will ich etwa das Wohnungsbauprogramm der Partei angreifen? Erregt bringt uns die Nachbarin das »Neue Deutschland« mit Offenem Brief Dieter Nolls an Honecker: die Heym, Schneider usw., »kaputte Typen«, kooperierten mit dem Klassenfeind. Verbandsrauswurf im Roten Rathaus; ca. 50 Schriftsteller stimmen dagegen, einschließlich Christa Wolf. Mein maoistischer Sohn telefoniert aus Köln, Wolf Biermann lässt grüßen - »durchhalten!« Nach der Wende, Rückkehr. Das Haus in Drispeth - im Grundbuch unter Tatjanas Namen eingetragen - blieb uns erhalten. Komplett niedergebrannt Christa Wolfs Haus, das von Helga Schubert gegenüber zur Hälfte. Spillner verzogen. Der Grieche nach profitablem Hofverkauf zurück am Olymp. Werner Lindemanns Grab in Zickhusen. Der IM, der uns noch in Hamburg »besuchte«, weggetaucht. Was bedeutet mir Drispeth? Etwas wie Blochs »Heimat«? Da faseln Wessis was vom »Worpswede Mecklenburgs« - gespenstisch ihre Illusionen. Hatte nicht schon Robert Wilken gespottet über die Erbhöfe der Dichter, zerplatzend wie Luftblasen, wenn sich das Moor wieder schließen würde beim Schrei aufgeschreckter Wildgänse i...

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