Abschied von »diffuser Opposition«

200 Jahre Französische Revolution - und eine sozialdemokratische Partei entsteht

Mit unserer Serie gehen wir bis zum Jahresende auf Zeitreise in den Alltag von 1989. Kleine wie große Ereignisse in der damals noch geteilten Stadt spielen eine Rolle. An die Atmosphäre im Wendejahr wollen wir erinnern und an Courage. Verschwundene Orte tauchen wieder auf. Von anderen wird erzählt, die erst 1989 entstanden. Auch Zeitzeugen kommen zu Wort. So soll sich übers Jahr ein Porträt unserer Stadt über die spannende Zeit vor 15 Jahren fügen.

26. August 1989. In der Berliner Golgatha-Gemeinde in der Tieckstraße ging ein zweitägiges Menschenrechtsseminar zu Ende. Anlass war der 200. Jahrestag der Französischen Revolution, in deren Verlauf erstmals die universellen Menschenrechte formuliert wurden. Das Seminar war vom Arbeitskreis Theologie und Philosophie der Studienabteilung des Bundes der evangelischen Kirche vorbereitet worden. »Bereits im Winter 1988/ 89 hatten wir über solch ein Seminar nachgedacht«, erzählt Peter Hilsberg, Gastgeber des Arbeitskreises und Pfarrer der Golgatha-Gemeinde. Ein einführendes Referat zur Geschichte der Französischen Revolution wurde von Ibrahim Böhme gehalten. Reinhard Schult, späterer Mitbegründer des Neuen Forum, hatte Böhmes Vortrag schon früher gehört und zeigt sich noch heute beeindruckt vom Wissen und der Eloquenz Böhmes. »Er hat keine Unterlagen gebraucht, sondern frei vorgetragen.« Bei den inoffiziellen Mitarbeitern des MfS stieß IM-Kollege Böhme hingegen auf Unverständnis. »Der Vortrag war sehr Fremdwort überladen«, berichtete IMB »Hagen« seinen Vorgesetzten, musste aber auch konstatieren, dass er »durch die rhetorischen Ausführungen des Böhme gut bei den Anwesenden angekommen« sei. Böhme hatte demzufolge erklärt, dass Revolutionen auch unblutig verlaufen könnten und nicht immer der führenden Kraft der Arbeiterklasse bedürften. In einem zweiten Vortrag hatte Pfarrer Martin Gutzeit die Menschenrechte in außereuropäischen Kulturen beleuchtet. Am nächsten Tag referierte Richard Schröder, damals Dozent am evangelischen Sprachkonvikt, zum Thema »Menschenrechte - Menschenpflichten - Menschenwürde«. Danach diskutierten die Teilnehmer in verschiedenen Arbeitsgruppen über »Biblische Aussage und Menschenrecht«, »Menschenrechte und Ökonomie«, »Recht und Pflicht der Bildung«, »Menschenrecht und Recht der Natur« und »Recht auf Entwicklung der Dritten Welt«. Nach der abschließenden Plenardiskussion lud der Pfarrer Markus Meckel zur Bildung einer Initiativgruppe zur Bildung einer sozialdemokratischen Partei ein. »Der Aufruf schlug ein wie eine Bombe«, erinnert sich Meckel. Die Anwesenden waren so verdutzt, dass Hilsberg Meckel aufforderte, den Aufruf zu wiederholen. »Ich wollte, dass jeder den Inhalt mitbekommt«, sagt Hilsberg. Kopien des Aufrufes waren damals nicht zur Hand. Meckel wiederholte fast wortgetreu seinen Aufruf. Er konstatierte darin das - trotz einiger Bewegung in Osteuropa - weiter vorherrschende Ohnmachtsgefühl. Er kritisierte die führende Rolle der SED und rief zu einer Demokratisierung der Gesellschaft auf. Als problematisch stellte er heraus, dass die Kaderpolitik der SED weitgehend erfolgreich die Bildung von geistiger und politischer Kompetenz außerhalb der Nomenklatura zu verhindern wusste. Er forderte daher zur Bildung neuer, demokratischer Strukturen auf. Als Kernaussagen sozialdemokratischer Politik nannte er u.a. Rechtsstaat und Gewaltenteilung, Sozialstaat mit ökologischer Orientierung, Gewährung von Asyl für politische Flüchtlinge, Anerkennung der Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der schuldhaften Vergangenheit sowie Entmilitarisierung der Gesellschaft und des Gebiets der DDR. »Wir hatten uns damals bewusst für die Gründung einer Partei entschieden. Wir wollten uns vom diffusen Charakter der Opposition der 80er Jahre absetzen. Ein klares Mandat, eine wohldefinierte Programmatik lag uns am Herzen«, erklärt Meckel heute. Pfarrer Hilsberg erinnert sich, an diesem 26. August erschrocken gewesen zu sein. »Ich habe diesen Aufruf als Frontalangriff auf das Selbstverständnis der SED, auf ihren Macht- und Herrschaftsanspruch, begriffen.« Auf Grund dieser Brisanz bemühte er sich, eine ausführliche Diskussion des Papiers zu verhindern. »Ich wollte nicht, dass sich Leute um Kopf und Kragen reden«, meint er. »Als Veranstalter hatten wir Pfarrer ja immer auch die Sorge, dass den Teilnehmern keine Konsequenzen wegen ihrer Reden drohten.« Es war ein Spagat zwischen Mut und Verantwortung. Markus Meckel und Martin Gutzeit hatten den Termin aus pragmatischen Gründen ins Auge gefasst. »Es handelte sich um eine der ersten Veranstaltungen nach den Sommerferien«, präzisiert Meckel. Weil kaum jemand Telefon oder Fax hatte, waren Veranstaltungen wie das Menschenrechtsseminar willkommene Gelegenheit, einem Kreis interessierter Leute Informationen zukommen zu lassen. Bereits Ende Juli hatten die befreundeten Pfarrer Meckel und Gutzeit den Aufruf ausgearbeitet. »Wir stellten ihn dann einigen Bekannten vor. Arndt Noack, Studentenpfarrer in Greifswald, ermunterte uns, bloß nicht zu zögern. Die Fluchtwelle sorgte für eine ungeheure Dynamik.« Noack erklärte sich bereit, Erstunterzeichner des Aufrufs zu werden. Im letzten Moment drängte sich auch Ibrahim Böhme auf die Liste. Von dem Vorhaben, das Papier am 26.8. vorzustellen, informierten Meckel und Gutzeit zunächst niemanden weiter, selbst Pfarrer Hilsberg als Veranstalter nicht. »Wir vertrauten ihm, doch wir wollten niemanden mit diesem Wissen in Gefahr bringen«, sagt Meckel. Nur drei Exemplare des Aufrufs existierten im Sommer 89. Eines hatte Markus Meckel bei sich, ein anderes war Anfang August an den Pfarrer Friedrich Schorlemmer gegangen. Das dritte war in Händen von Ibrahim Böhme, der es umgehend der Staatssicherheit übergab. Die Verbreitung des Aufrufs konnte das MfS dennoch nicht verhindern. Werner Fischer, Teilnehmer am Seminar bei Golgatha, fertigte Kopien und gab ein Exemplar der »Frankfurter Rundschau« weiter. Die publizierte den Aufruf am 28. August. Die ersten Reaktionen der West-SPD waren skeptisch. »Parteigründungen durch kleine Gruppen können gar nichts bewegen«, äußerte etwa Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister Westberlins. Die Sozialdemokraten (Ost) ließen sich davon nicht beirren. Bereits Ende August wurde die Gründung der SDP auf den 7. Oktober festgelegt. In der Zwischenzeit wurde ein Untergrund-Netzwerk aufgebaut. Zirka 70 Personen zählten zum engeren Kreis der Gründer. Konspirativ wurde am 4. Oktober der Treffpunkt in Schwante bekannt gegeben. Nur 40 der 70 Personen konnten benachrichtigt werden. Bereits am 2. Oktober wurde eine Gründungsurkunde unterschrieben. »Wir hatten aus den Vorgängen vom 1. Oktober gelernt«, sagt Meckel. Das MfS hatte durch massiven Einsatz die Gründung des »Demokratischen Aufbruchs« von Rainer Eppelmann verhindert. Selbst eine Zerschlagung des Gründungskongresses am 7. Oktober hätte wegen des bereits unterzeichneten Dokuments die Gründung der SDP nicht mehr rückgängig machen können. Trotz der Skepsis großer Teile der Bürgerbewegung, die keinen Parteienstaat, sondern eine veränderte Gesellschaft wollten, wurde die Partei zu einer wichtigen politischen Kraft im Lande. Dabei hatte am 27. Oktober Politbüromitglied Horst Dohlus auf einer Beratung der 1. Bezirkssekretäre der SED gefordert, die »Gründung der SPD ist unbedingt zu verhindern«. Markus Meckel war von April bis August 1990 Außenminister der DDR und sitzt seitdem im Bundestag. Martin Gutzeit, der stets als Mann im Hintergrund agiert hatte, zog sich schon 1990 wieder aus der aktiven Politik zurück. Er ist seit 1993 Landesbeauftragter für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR in Berlin. Peter Hilsberg ist bereits im Ruhestand. Manchmal bedauert er, dass dem Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen, keine Unterschriftenliste angefügt war. »Dann wäre ich sicher der erste gewesen, der unterze...

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