Schwarzer Tag für Adenauer

Das Scheitern der EVG 1954

  • Wilhelm Ersil
  • Lesedauer: 4 Min.
Der 30. August 1954 ist ein gravierendes Datum in der (Vor-)Geschichte der Europäischen Union. An jenem Tage scheiterte das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Der am 27. Mai 1952 unterzeichnete EVG-Vertrag sah vor, westdeutsche Streitkräfte von 500000 Mann (12 Divisionen) im Rahmen einer supranationalen Organisation aufzustellen. Auf letzterem hatte Frankreich in den Auseinandersetzungen um die westdeutsche Remilitarisierung bestanden. Paris verband mit der EVG vor allem die Absicht, sich eine gewisse Kontrolle über die entstehende westdeutsche Militärmacht zu sichern. Zu diesem Zwecke hatte Ministerpräsident Pleven am 24. Oktober 1950 die Idee einer »Europa-Armee« aus Kontingenten westeuropäischer NATO-Staaten und der BRD vorgebracht, die »einer einheitlichen politischen und militärischen Autorität« unterstehen und mit »politischen Institutionen des Vereinten Europa verbunden« sein sollte. Die westdeutsche Aufrüstung sollte über die Teilnahme der BRD an einer in die NATO eingeordneten westeuropäischen Militärgruppierung praktiziert werden. Bonn stimmte dem Pleven-Plan nach einigem Zögern zu, um Pariser Zustimmung zur Aufrüstung zu erreichen - und da dieses Projekt in die antisowjetische »Politik der Stärke« eingeordnet war. 1952 erklärte Adenauer offen, die Westintegration habe das Ziel, die »verlorene Heimat« wiederzugewinnen. Zudem biete die europäische Integration, wie der Kanzler am 13. April 1956 an Ludwig Erhard schrieb, auch »das notwendige Sprungbrett für uns, um überhaupt wieder in die Außenpolitik zu kommen«. Westdeutsche Ambitionen und Militarisierung wurden mit Integrationskonzepten verknüpft. Schon im Januar 1949 hatte Adenauer intern ausgeführt: »Eine europäische Truppe würde gleichzeitig bedeuten den Anfang eines wirklichen Europas, einer europäischen Macht«. Ende 1949 brachte er den Gedanken »eines deutschen Kontingents im Rahmen der Armee einer europäischen Föderation« ins Spiel. Über eine supranationale, eng mit der NATO verzahnte Militärgruppierung sollte ein entscheidender Schritt in Richtung einer Politischen Union getan werden. Dafür wurde in der 1952 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der damit verbundenen Verflechtung westeuropäischer Montanindustrie unter einer internationalen Behörde ebenfalls ein wichtiger Ansatz gesehen wurde. Mit einer supranational konstruierten EVG verband die Führungsgruppe um Adenauer die Erwartung, über eine Teilintegration der Streitkräfte werde der Weg zu einer politischen Gemeinschaft geöffnet. Nach Inkrafttreten des EVG-Vertrages sollte mit dem Aufbau einer Politischen Union begonnen werden, die die Montanunion und die EVG überwölben sollte. Für eine solche Politische Union hatte die Parlamentarische Versammlung der EGKS eine Art Verfassung (Satzung) vorgelegt. Wenn in der jetzigen Debatte über den EU-Verfassungsvertrag westeuropäische Integration als einzigartiges Friedensprojekt glorifiziert wird, so sollte nicht übersehen werden, dass in der ersten fünfziger Jahren ein gegen die späteren Mitglieder des Warschauer Paktes gerichtetes Militarisierungs- und Aufrüstungsprojekt im Vordergrund stand. Und dieses Vorhaben wurde gegen den Willen der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung vorangetrieben. Demokratische Mitentscheidung der Bürger mittels einer Volksbefragung, wurde von den Herrschenden gänzlich ausgeschlossen. Die Verhandlungen über den EVG-Vertrag und die Ratifikationsverfahren nahmen vier Jahre in Anspruch. Bis Mitte 1954 hatten die Parlamente Belgiens, der Bundesrepublik (19. März 1953, 224 gegen 166 Stimmen, vornehmlich SPD-Abgeordnete), Luxemburgs und der Niederlande den Vertrag ratifiziert. In Italien stand der Ratifizierungsprozess vor dem Abschluss. Die USA, die sich nach einiger Unsicherheit stark für die EVG eingesetzt hatten, übten ebenso wie Großbritannien Druck auf Paris aus, um ein positives Votum zu erreichen. Die massive Rückendeckung durch Washington nutzte jedoch nichts. Am 30. August 1954 sprach sich die französische Nationalversammlung mit 319 gegen 264 Stimmen gegen den EVG-Vertrag aus. Zu groß waren französische Besorgnisse über die Rolle der erstarkenden BRD in einer supranational strukturierten EVG und schwindenden französischen Einfluss. Die französische Absage bedeutete für Kanzler Adenauer eine schwere Niederlage, der 30. August 1954 war für ihn ein »schwarzer Tag«. Hoffnungen, in naher Zukunft zu einer föderativen Politischen Gemeinschaft zu gelangen, erwiesen sich als irreal. Der Satzungsentwurf verstaubte in den Archiven. In der derzeitigen Auseinandersetzung um die EU-Verfassung sollte auch mit Blick auf 1954 nicht übersehen werden, dass für den Fall ablehnender Entscheidungen in einzelnen Mitgliedstaaten über »Ersatzlösungen« nachgedacht wird, um Militarisierung »kerneuropäisch« durchzusetzen.

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