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Ausweg in der Flucht gesucht

  • ANDREAS HERBST
  • Lesedauer: 4 Min.

Karl Doerr (mit Stock) mit Mitgliedern des Sekretariats des SED-Landesvorstandes Thüringens: (v.l.n.r.) Ingo Wachtel, Fritz Wagner, Fritz Heilmann, sowjetischer Presseoffizier, dahinter Georg Klaus, unbekannt, Erich Kops, Karl Doerr, Otto Trillitzsch, August Frölich

gierung zur Landesparteischule. Hier sollte sich der ehemalige Sozialdemokrat Doerr die Theorie des Marxismus-Leninismus aneignen.

Doerr war kein Einzelfall. Gleich ihm wurden nach der 1. Parteikonferenz der SED vom Januar 1949 zahlreiche ehemalige Sozialdemokraten aus ihren Funktionen gedrängt. Viele von ihnen besetzten zwar in der Folge repräsentative, allerdings zumeist auch nicht sehr einflußreiche Funktionen in Verwaltungen oder Massenorganisationen. Nicht so Karl Doerr.

In einer außerordentlichen Sitzung des Landesvorstandes der SED Thüringen am 17 Mai 1949 unterstrich - in Anwe-

senheit von Grotewohl, Dahlem, Lehmann, Merker, Buchwitz und Matern - der Landesvorsitzende Erich Kops, „daß in einer Partei neuen Typus keine fraktionelle Tätigkeit von Schumacheragenten und trotzkistischen Gruppen geduldet werden kann“ Ähnliches hörten zwei Monate später die Schüler der Landesparteischule, die an der Parteikonferenz der SED Thüringen vom 9 und 10. Juli 1949 in Erfurt teilnahmen - unter ihnen Karl Doerr. Die Konferenz formulierte die Aufgabe: den Kampf gegen Nationalismus und Opportunismus mit Entschiedenheit weiterzuführen und das ideologische Niveau der Mitglieder vor allem durch das Studium der Ge-

schichte der KPdSU (B) zu heben“

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Doerr schon mehrere Schulen hinter sich, die prägendste war sein Leben. Der am 27 Dezember 1898 in Frankfurt am Main geborene Sohn eines Schneidermeisters schloß sich bereits 1914 der Sozialistischen Arbeiterjugend und 1917 der SPD an. Im Ersten Weltkrieg verlor er ein Bein. Damit anderen Generationen die Schrecken eines Krieges erspart bleiben, engagierte er sich politisch: als Vorsitzender der Jungsozialisten in seiner Geburtsstadt, als Redakteur der „Volksstimme“ in Frankfurt am Main, an einer gleichnamigen Zeitung in Dresden und anschließend im „Soziali-

stischen Feuilleton“. Bis zur Machtergreifung der Nazis war er in Wuppertal Chefredakteur der „Freien Presse“

In der Nazi-Zeit war er mit seiner jüdischen Frau Repressalien ausgesetzt, zeitweilig auch im KZ Kemna bei Wuppertal gefangengehalten. So es ging, hielt er den Kontakt zu sozialdemokratischen Freunden aufrecht, wie zu Karl Ibach, später Vorsitzender des Bundes der Verfolgten des Naziregimes in der Bundesrepublik. 1943 ausgebombt und von Wuppertal weggezogen, erlebte Doerr die Befreiung in dem kleinen Dorf Hötzelroda bei Eisenach. Er gründete die erste Ortsgruppe der SPD Thüringens und wurde im Oktober 1945 vom Landesvorstand der

SPD mit der Chefredaktion der „Tribüne“ beauftragt.

In den Dezembertagen 1945 war es, als er nach über zwölf Jahren den Kommunisten und Freund Werner Eggerath, den er aus seiner Wuppertaler Zeit in der „Freien Presse“ kannte, wiedertraf. In dem 1976 erschienenen Memoirenband „Die fröhliche Beichte“ berichtete Eggerath, wie er und Doerr sich gemeinsam für die Vereinigung von KPD und SPD einsetzten. Zu den Vereinigungsbefürwortern gehörten in Thüringens SPD auch Heinrich Hoffmann und August Frölich. Gemeinsam diskutierten sie mit den Gegnern um Hermann Brill. 1946 bis Februar 1949 führte Doerr paritätisch mit Fritz Heilmann das Organ der Thüringer SED, danach allein. Allerdings nur für kurze Zeit.

Während des fünfmonatigen Lehrganges auf der Landesparteischule mußte Doerr immer wieder erniedrigende Überprüfungen über sich ergehen lassen und Selbstkritik üben, schließlich gar einen Artikel schreiben, in dem er zu seinen politischen Fehlern Stellung nehmen sollte. Wenige Tage vor der Veröffentlichung des Artikels „Abkehr vom Sozialdemokratismus“ hielt es Karl Doerr nicht mehr aus. Wie sein Sohn sich heute erinnert, soll ihn auch ein anonymer Anruf aus Berlin erreicht haben, der ihn vor einer unmittelbar drohenden Verhaftung durch den sowjetischen Geheimdienst gewarnt habe.

Karl Doerr flüchtete nach Westberlin, wenig später nach Düsseldorf. Vom 1. Juli 1950 bis zu seinem Tode am 9. Juni 1951 wirkte er dort als Chef vom Dienst bei der Wochenzeitung „Das Freie Wort“

Mit Doerrs Flucht fühlten sich jene bestätigt, die ihm „parteifeindliche, fraktionelle Tätigkeit“ vorwarfen und angeblich wußten, daß, wie Eyermann schrieb, „Doerr Verbindungen zu SPD-Führern und einem amerikanischen Nachrichtenoffizier im Westen hatte“.

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