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Jelzins Gebetsmühle: Reformen, Reformen

Lob für des Präsidenten Wahlkampfrede fand nur Wladimir Shirinowski

  • Lesedauer: 2 Min.

Von KLAUS J. HEMMANN, Moskau

Die direkte Antwort der russischen Kommunisten auf Jelzins freitägliche Wahlkampfrede an die Nation folgte prompt: Mit 1,7 Millionen Unterschriften für den Vorsitzenden Gennadi Sjuganow machten sie sich auf den Weg zur Registrierung des ersten Kandidaten für die Präsidentschaft. Sjuganow kündigte für diese Woche Konsultationen mit anderen Politikern an, um Jelzin in einer Koalition gegenübertreten zu können.

Dessen Botschaft an die Nation hat die Chancen des kommunistischen Rivalen durchaus nicht sinken lassen. Der Kremlchef entleier,te einer .Art tibetanischer Gebetsmühje nur erneut die Beschwörung, daß

er die Reformen fortsetzen werde. Er selbst war für nichts, Regierung, Opposition und widrige Umstände aber waren für alles verantwortlich. Mängel wurden zwar benannt, nicht aber als Folgen der eigenen Politik eingestanden.

Auch Jelzins verbalen Schwenk zur sozialen Ausrichtung des Wandels konterkarierte wieder einmal die Realität. Die Zahl der offiziell unter dem Existenzminimum lebenden Russen erhöhte sich von 36,6 Millionen 1995 allein im Januar 1996 auf 37,3 Millionen. Die haben mit Jelzin nichts gewonnen und bei anderen nichts zu verlieren. Folgerichtig fürchten laut einer am Sonntag veröffentlichten Umfrage eigentlich nur private Unternehmer, Leiter und leitende Angestellte - und zwar

längst nicht alle - einen Sieg der Kommunisten.

Der Hinweis der „Moscow Times“ auf eine „schamlose Eigenwerbung“ Jelzins blieb in Moskau unwidersprochen. „Populismus und das Fehlen von elementarer Logik“ beklagte Sjuganow, Menschenrechtler Sergej Kowaljow erkannte einen „Cocktail von populististischen Losungen, guten Punkten und Unwahrheiten“ Mehrfach wurde Jelzin bezichtigt, einfach die Lo'sungen der Opposition übernommen zu haben, ohne Voraussetzungen und Wege ihrer Verwirklichung zu benennen. Grigori Jawlinski, ein anderer Präsidentschaftskandidat, vermißte jede Antwort „auf nur eine einzige der für das Land wichtigsten Fragen“ Er sah -bei Jelzins Botschaft „soviel

Bindung zum wirklichen Leben wie in der Losung, den Kommunismus aufzubauen“ Lob wagte neben Jelzins Vertrauten nur Rechtsaußen Wladimir Shirinowski, der sich damit wieder einmal als Partner anbot.

Goldene Worte fand der Kremlherrscher also nicht. Seinem Verteidigungsminister Pawel Gratschow überreichte er dafür die „goldene Medaille des Präsidenten“ Der General läßt für den Frieden des Chefs gerade auf Inguschen schießen. Außerdem stünde er bei einem Fehlschlag der Wahlen unweigerlich für alle Arten von Diensten bereit. Ähnlich schätzt der Spender der privaten 100-Gramm-Medaille auch einen weiteren Freund: Das erste Exemplar ging nämlich an Kanzler Kohl.

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