Banischs Welt

Im Wildpark Johannismühle begegnet man mehr als 400 Tieren und deutsch-russischen Geschichten

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 10.5 Min.
Klasdorf, Wildpark Johannismühle. Der Mann, der uns führen wird, ist der Chef. Statur wie ein Bär, olivgrüne Kluft: Latzhose, T-Shirt, Thermo-Weste und ein wild-verwegenes Base-cup - Bruce Willis als Ranger, stark und verlässlich. Bruce Willis sagt: »Meine Damen und Herren, der Park erstreckt sich über 90 Hektar. Hier leben über 400 Tiere. Damit stehen wir auf der Liste der zehn größten Wildparks in Deutschland. Wir unterscheiden uns durch die Philosophie: Erstens halten wir vorwiegend Tiere, die nach der Eiszeit in Brandenburg lebten, und solche, die hier immer noch leben, aber auf Grund der Zersiedelung in die Wälder verdrängt werden. Zweitens halten wir sie hier so moderat wie möglich und so sicher wie nötig. Etwa 250 Tiere bewegen sich frei im Gelände, andere leben in Großgehegen; das kleinste umfasst einen Hektar. Der Morgen kauert kühl im Wald, wir kriechen tiefer in die Mäntel. Warmduscher wir, Bruce Willis friert nicht! In Wirklichkeit heißt er Frithjof Banisch, er wird uns auf Trab bringen. »Folgen Sie mir, meine Damen und Herren, und bleiben Sie immer schön auf den Wegen.« Die Damen und Herren sind eine Gruppe der Brandenburger Volkssolidarität. Vorhin, auf dem Parkplatz, hab ich gesehen, wie sie aus dem Bus stiegen; es hat eine Weile gedauert. Jetzt gehen sie schneller, jetzt ruft die Wildnis! Doch Banisch bleibt schon wieder stehen, und ach, die wilde Wildnis, wo ist sie? Kiefern, soweit das Auge blickt, Rekruten beim Exerzieren. »Meine Damen und Herren, jemand hört "Wildpark". Damit assoziert er Tierpark, schon ist er beim Zoo, damit hat er Erfahrung: Links die Eisbären, rechts die Löwen. Dann kommt er nach Johannismühle, und was ist sein erster Eindruck? Wer hat dich, du schöner Wald, abgeholzt und verschoben - richtig!« Jemand lacht, ein flaches Lachen. Banisch spricht von dem Mann aus Tharandt, der Brandenburg vor 200 Jahren die Monokultur der Kiefer bescherte und so den Wald für die Marktwirtschaft rüstete: »Die Kiefer wächst schnell auf Sandböden - Kohle machen, meine Damen und Herren. Und alle hundert Jahre wird abgeholzt, dann wird richtig Geld verdient. Anschließend holen wir uns aus Polen ein paar billige Arbeitskräfte, die kurz über den Boden wuseln, dann kann das Theater von vorn losgehen.« Jetzt lachen wir alle, jawoll, so ist es; unser Erfahrungsschatz passt wieder. Dann stellen wir uns dem Ernst der Lage: »Schauen Sie in diese Wälder hinein, werden Sie viele trockene Nadeln entdecken, viel Bruchholz, vielleicht mal einen Farn, ansonsten kaum Unterwuchs. Keine Stockwerke wie im Naturwald. Damit gibt es weniger Insekten, weniger Vögel usw. Fällt ein Schädling ein, wirds kritisch, und der Waldbrand freut sich jeden August - was kann man dagegen tun? Wir haben die Bestockung runtergeschlagen, Licht fällt ein, und jetzt, im Herbst, pflanzen wir Laubgehölze dazwischen. Mit 3000 Eichen, Ebereschen, Wildrosen und Ginster fangen wir an, unseren Altbestand zu einem gesunden Mischwald umzubauen.« Bevor wir weitergehen können, werden wir für die fehlenden Löwen entschädigt - mit der Roten Waldameise. Wir hätten den Haufen glatt übersehen. Dabei ist er das Zuhause für zwei Millionen liebreizende Viecher! »Diese kleinen Kollegen, meine Damen und Herren, halten einen halben Hektar Wald gesund. Sie marschieren die Kiefern hoch und vertilgen die Larven des Kiefernspanners. Deshalb sorgen wir dafür, dass unseren Freunden nichts passiert. Die Ameise hat nämlich drei Feinde. Erstens: Opa, gib mir maln Stock, zweitens den Schwarzspecht, drittens den Fuchs. Der wälzt sich, die Ameisen zwicken ihn wie uns das Wässerchen nach dem Rasieren. Meine Großmutter sagte immer: Kennst du nen Fuchs, den das Rheuma plagt?« Dreißig erwachsene Menschen starren wirklich auf einen Ameisenhaufen wie auf einen Termitenstock in Brasilien. Als Banisch ihn zum Kunstwerk erhebt - »Können Sie sich vorstellen, dass wir Menschen so eng zusammenleben, ohne einander zu vernichten? Wir würden uns schon mit der Grippe anstecken« - ist der Haufen für uns das Größte. Und solcherart gleichsam auf den Boden der heimischen Tatsachen gestoßen, suchen wir nun geschärften Auges nach weiteren Offenbarungen. Wobei ich trotzdem die staunenden Worte meiner Nachbarin an ihre Freundin aufschnappe: »Der Mann muss die Natur sehr lieben.« Die Freundin meint: »Das wär was für Svenni. Silke soll mit der Lehrerin reden, hier würden die Kinder was lernen können.« Wir tauchen tiefer in Banischs Welt. Es ist eine grüne Welt - so grün ist Joschka Fischer nicht mal, wenn er sich darüber ärgert, dass jemand nicht in den Krieg ziehen will. »Meine Damen und Herren, diese Schneise verläuft bis zum höchsten Punkt des Parks. Der liegt 104 Meter hoch: Wir befinden uns hier nämlich an der nacheiszeitlichen Abbruchkante einer Endmoräne, dem Fläming, hin zum Baruther Urstromtal. Und nun schauen wir in dieses Tal: Das Areal von 20 Hektar, heute der Mittelstreifen des Parks, diente den Oberkommandierenden der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland seit 45 als Wochenendgrundstück.« Wir tauschen beredte Blicke: Sieger wissen, wo es schön ist. Und spüren, wie sich die Stimmung verändert: Wir stehen nicht nur an der Abbruchkante von der Endmoräne zum Urstromtal, hier bricht in den grünen Frieden Geschichte. »Und da man sich um Geschichte nicht drücken kann, habe ich alle Oberkommandierenen, die sich hier vom Kalten Krieg ausruhten, mal auf einer Tafel abgebildet. Wir finden hochinteressante Dinge: Marschall Jakubowski kam am 10. April 1960 und ging am 9. August 1961. Am 9. August ersetzte ihn Konjew, der alte erfahrene Kriegsmarschall. Dann kam der 13. August. Und als sich Kennedy und Chrustschow verständigt hatten, ging Konjew wieder. Und wer kam? Na, Jakubowski.« »Wissen Sie, was er früher gemacht hat?« Ein Mann ist zu mir aufgerückt und weist mit dem Kopf auf Banisch. Der Mann wirkt irgendwie geduckt, doch er ist noch zu jung für die VS. Wie ein Ausflügler sieht er auch nicht aus; er schleppt weder Schirm noch Sitzkissen. Ja, sagt er, übers Wochenende habe er hier mit seiner Familie eine Ferienwohnung gemietet; es gefalle ihnen prima, abends die Rehe vor dem Fenster... »Wissen Sie, was er früher gemacht hat?« Ich könnte seine Neugier stillen. Wenn es meine Sache wäre. So murmele ich nur vage: »Grenze.« »Alles klar«, lacht er, »ich war auch dabei.« Es klingt überhaupt nicht glücklich. Dafür japsen die anderen vor Entzücken. Unser Ranger hat sich auf den Weg in die Tiefen der Jagdgründe gemacht, die letztlich doch nicht die ewigen waren, als von der Wiese her zwei Gänse auf ihn zugeschossen kamen, schnatternd seine Füße umkreisten und nun hinter ihm herwatscheln. Vorneweg Banisch, gefolgt von den Gänsen, denen wir hinterherhecheln - wären wir nicht damit beschäftigt, bezuckert zu grinsen und unentwegt »wie süß« und »wie niedlich« zu hauchen, würden wir das urkomisch finden. Apropos Ur: Wir treffen nun auf Charlotte, die mit den Wimpern klimpert. Die schöne Charlotte ist ein Heck-Rind. Die Gebrüder Heck, erzählt Banisch, hätten in den Zwanziger Jahren den Phänotyp des Urs rückgezüchtet. Der Ur oder Auerochse, eine der zwei Wildrinderrassen, die Brandenburg einst besiedelten, sei das Rind der Freiflächen gewesen. »Außerdem, meine Damen und Herren, ist er Stammvater aller heutigen Rinderrassen auf der Erde. Als der Jäger sesshaft wurde, sah er den Ur als Konkurrenz der nunmehr gezüchteten Rinder an, deshalb hat er ihn ausgerottet...« Ein Völkermord und Charlotte ein Denkmal! So haben wir das noch nicht gesehen. Klar, dass wir solidarisch sind und Charlotte nun ungeteilte Aufmerksamkeit entgegenbringen. Vorbeugend auch gleich den Wisenten, jenen »Rindern des Waldes«, die den Feind nicht von Ferne ausmachen können, so dass sie, wenn sie ihn entdecken, »Adrenalin im Eimer auskippen«. »Nach dem Zweiten Weltkrieg«, sagt Banisch, »war der Wisent fast ausgestorben. Polnische, ukrainische und deutsche Wissenschaftler haben sich für seine Erhaltung sehr engagiert. Professor Dathe zum Beispiel erwirkte, dass die DDR-Regierung im damaligen Mecklenburg eine Halbinsel zur Verfügung stellte, dort werden die Tiere bis heute gezüchtet. Es gibt heute auch ein zentrales Zuchtbuch, das führt eine polnische Kollegin. Auch wir sind in diesem Buch verewigt. Johann und Johanna wurden in Johannismühle geboren.« Inzwischen hat sich die Herbstsonne über die Baumwipfel erhoben. Wer hoch steigt, kann bekanntlich tief fallen, und unsere Sonne fällt geradewegs auf das Herz der Parkanlage: Rot- und Damwild in Gold getaucht. Die Glocke ruft zur Kraftfuttergabe. Aus allen Himmelsrichtungen strömen auch noch die letzten Versprengten zur Krippe, »die Betreuer können gucken: Gibts Verletzte oder haben sich die dominierenden Tiere verändert?« Wir lassen das Bild nur ungern los: die Fiktion unberührter Schöpfung. Doch die »großen Räuber« locken - die Bären und die weißen Wölfe. Die Isegrimms ruhen gerade ein bisschen. Sie schmiegen sich an den Fuß einer Kiefer und sehen fast aus wie Kuscheltiere. Fünf Schritte, und wir könnten sie streicheln. Wenn zwischen uns nicht der Maschenzaun wäre. Banisch erzählt, wie froh er sei, die Wölfe »so locker« halten zu dürfen, »wir wollen den Leuten ja beibringen, dass der böse Wolf nicht der böse Wolf ist. Es ist wie im wirklichen Leben, wenn Sie an diese Tage denken: Viele glauben immer noch an das Märchen vom Rotkäppchen.« Gegenüber die Braunbären. »Komm zu Papa, Dolly«, ruft Banisch. Freudig tapst der Petz heran; eine Liebe unter den Menschen! Wir erfahren, dass Dolly, Mausi, Katja und Carla einst Stars waren - in der Longengruppe der Sperlichs. Als sich der Staatszirkus der DDR in der Abwicklung befand, sollten sie in einen Zoo nach Tbilissi. »Die Sperlichs haben sich gewehrt, dort war wieder mal Bürgerkrieg. So kamen die Bären zu uns. Aber, wie immer nach Abwicklungen, musste erst mal umgeschult werden - vom Zirkusbär zum Wildparkbär. Sie mussten lernen, Strom tut weh, denn wir wollten keine Mauern.« Mauern? Der Mann aus dem Ferienhaus hebt leicht irritiert die Brauen. Die anderen merken nichts, warum auch? Zumal uns schon wieder das Herz aufgeht: »Es ist irre, wenn man sieht, wie die Bären in zwei Jahren alles angenommen haben, was Bären in Freiheit treiben! Sie klettern, bauen Höhlen, und letzten Winter hielten sie erstmals Winterschlaf. Nur die Katja, die schlug sich mit Mausi. Wir mussten noch eine Anlage bauen. Und damit Katja dort nicht allein ist, nahmen wir noch zwei Schwarzbären auf. Das sind amerikanische Bären, die passen mir nicht ganz ins Konzept, doch Brandenburg ist ja tolerant, jedenfalls im Allgemeinen.« Ja, so sind wir. Im Allgemeinen. Vor allem sind wir fußmüde. Banisch lenkt uns zum großen Grillplatz, wo wir etwas ausruhen können. Und er sich, kaum auf sicherem Grund, eine »Cabinet« anzündet. Unser Ranger raucht, nicht möglich! »Ich frage Sie, meine Damen und Herren, wie viele Baumarten sehen Sie hier? Roteiche, Stieleiche, Traubeneiche, Sommerlinde, Winterlinde, Süßkirsche, Sauerkirsche, Pflaume - summa summarum 38. Warum isses so? Na, hier lebten über Generationen Menschen, die darauf geachtet haben, dass hier ein gesunder Wald wächst. Wir sind bei der Geschichte des Grundstücks.« Banisch erzählt von Friedrich Zwo, der den windigen Höhenzug mit Windmühlenbauern besiedelte: »Mit Flamen, daher der Name Fläming.« Davon, dass »ein ganz Pfiffiger« hier eine Sägemühle errichtete. Davon, dass der Fürst zu Solms-Baruth die Mühle später wegreißen und ein Forsthaus bauen ließ, in dem, als im April 45 die sowjetische Armee den Westring um Halbe schloss, Förster Dorow mit seiner Familie lebte. Für erwähnenswert hält Banisch, dass Dorow eine ausgebüchste Fremdarbeiterin versteckt hielt, so dass ihm der russische General mit Vertrauen begegnete, aus dem sich Freundschaft entwickelte und schließlich die Liebe zu diesem Grundstück. »Sechzehn Oberkommandierende, und jeder hat hier was gebaut. Was wäre 94 passiert? Die Vandalen wären gekommen, hätten alles demontiert.« Und damit sind wir bei Banischs Geschichte. Er müsste sie nicht erzählen, er tut es. Der frühere Stellvertreter des Chefs des Stabes der Grenztruppen der DDR und letzte Chef des DDR-Grenzschutzes möchte Leuten wie uns erklären, dass er nicht wie viele seiner Generation 89/90 geboren wurde, sondern 47 in Thüringen. Eine Skatrunde wird lebendig: Ein Onkel, der seinen Arm in Polen, ein anderer Onkel, der seinen Arm in Stalingrad verloren hatte. Der Vater, der im Kanal 44 mit dem U-Boot auf eine Miene lief, aber Glück hatte und rauskam. Der Großvater, der zwei Kriege mitmachte: »Da war was los, meine Damen und Herren!« Bei diesen Worten strafft der Mann aus dem Ferienhaus die Schultern, mir will scheinen, er wächst ein Stückchen. »Dann Korea- und Vietnamkrieg. Ich habe Abitur gemacht, Kfz-Schlosser gelernt, wollte Sportlehrer werden und entschloss mich für die Offizierslaufbahn. 24 Jahre habe ich dem Staat gedient, dessen Geschichte nicht erst 49 anfing und den es heute nicht mehr gibt. Deshalb hat man sich 94 wieder mal um mich gerissen.« Zwei Mal am Tag erzählt er das. Banisch macht es sich nicht leicht. Er raucht zu viele Zigaretten. Freispruch vor dem Schwurgericht. Die Geschichte, die Russen, das Gewissen. Tiere, die gefüttert werden müssen. »Als ich das Grundstück kennen lernte, habe ich ein Konzept entwickelt, bin zur Staatskanzlei gefahren, zur Treuhand, zu den Banken, zu den Russen, so ist dieser Park entstanden. Ein Familienbetrieb ohne Zuschüsse. Neben meiner Frau und Tochter finden hier zehn Leute Arbeit. Sie wissen jetzt also, ich bin reich. Reich an Schulden und Erfahrung. Hier möchte ich diesen Ausflug beenden.« Viele von uns möchten das noch nicht. Hat er noch Kontakt zu den Sowjets? Wird Amerika Krieg führen? Verrückterweise glauben wir plötzlich, ausgerechnet Frithjof Banisch in Johannismühle müsste das wissen. Wir glauben, er müsste Antworten kennen. Banischs Welt ist entwaffnend ehrlich. Und irgendwie wolle...

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