Erfüllen Sie das Ganze mit Liebe

Mehr Westen im Osten ist nicht möglich: Silver Lake City wartet auf Gäste

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.

Mirko wollte wie Anton sein. So was klappt nie. Der Osten wollte wie Westen sein. So was klappt auch nicht, meint man zu wissen.
Doch dann fährt man nach Templin. Am malerischen Röddelinsee geht der Gleichheitstraum in Erfüllung - mehr Westen im Osten als hier ist nicht möglich. Wilder Westen! Indianer, Pferde, Bisons, Saloons, Postkutschen, Cowboys! Wo einst das Pionierlager Marschall Klement Woroschilow seine Zelte und Bungalows aufschlug, präsentiert sich nun Silver Lake City.
Allerdings präsentiert sich die Westernstadt schlecht. Erst auf der Landstraße hinter Templin, wo ein Weg auf Kiefernwald zuläuft, findet sich eine Werbefläche - weit und breit der einzige Hinweis. Das kann nicht gut sein fürs Geschäft und ist so gar nicht Wessi-like. Denn normalerweise sind Wessis, anders als gelernte Ossis, die sich schon vor fünfzehn Jahren ohne jeden Geschäftssinn verkauften, Weltmeister in Sachen Selbstdarstellung. Man tippt auf ein Zeitproblem. Irgendwie läuft die Sache wohl noch nicht so richtig.
Ängstliche Gemüter mögen aber in einem beruhigt sein: Man ist absolut sicher in Silver Lake City. Schon am elektronisch gesicherten Eingang wacht zusätzlich die Security, damit niemand ohne Ticket hineinkommt; die Jungs haben sich als Ranger verkleidet. Außerdem gibt es einen Sheriff. Der schüttelt das wilde Haupt- und Barthaar, trägt eine Pistole im Holster, einen Colt in jedem Stiefel und am Gürtel Handschellen. Die braucht er auch, denn nach Silver Lake City zieht es Goldgräber, Desperados, Banditen. Manchmal muss er welche festnehmen oder über den Haufen schießen. Im Augenblick ist der Knast belegt. Ein Indianer aus Plastik sitzt drin. »Wir haben auch echte hier«, sagt der Sheriff, »die verhafte ich aber nicht, die tanzen jeden Tag um zwei, und die Frau ist eine Schönheit.«
Ich habe, während ich dies schreibe, noch die Handystimme von Pressesprecher Siggi Schiemann aus München im Ohr: »Erfüllen Sie das Ganze mit Liebe.« Ich sehe förmlich, wie Patrick Spieß, Manager von Silver Lake City, der mich einen Tag lang begleitete, verstimmt die Zeitung aus der Hand legt. Seit die »Westernstadt Ihrer Träume« gerade noch rechtzeitig vor Ende der Brandenburger Sommerferien im Juli eröffnete, hat sie einige Imageprobleme. Die sie nicht hätte, wären zuvor nicht Millionen Fördermittel für Euro Speedway, Cargolifter und Chipfabrik im märkischen Sand versickert. Die sie nicht hätte, würde der Aufbau Ost im Jahre vierzehn der Einheit hoffnungsvoll stimmen. Die sie nicht hätte, würde nicht jeder vierte Templiner oder Zehdenicker Arbeit suchen und keine finden. Menschen, die nicht arbeiten dürfen, die keine Chance haben sich zu beweisen, müssen Silver Lake City als Witz empfinden. In den Medien wird Silver Lake City als Karikatur des Aufschwungs gezeichnet.
Das ist ein bisschen ungerecht, finden Siggi Schiemann und Patrick Spieß. Denn es ist schön in Silver Lake City. Die Stadt am Silber-, Pardon, Röddelinsee ist so etwas wie ein Erlebnispark auf 70 000 Quadratmetern. Wild-West im 19. Jahrhundert zum Sehen, Hören, Anfassen. In der Mainstreet gibt es einen Friseurladen, originalgetreu bestückt mit Badewanne und Zahnarztstuhl - Gott sei Dank, dass hier nichts in Betrieb ist. Es gibt einen »Drugstore« zum Anschauen, »Books and Newspapers«, wo man sein Konterfei auf einem Steckbrief drucken lassen kann, ein Hotel mit neun Zimmern und einer Suite, »Guns« und ein »Clothing Emporium«, in dessen Regalen »Western ware« liegt - Himmel, wer zieht so was an? Patrick Spieß: »Wir leben in einem freien Land.« Unglaublich die Detailtreue, mit der alles rekonstruiert ist, von der Lampfe bis hin zur Blechbüchse. Ausgestattet wurde die Stadt von Heinz Bründl, einem Sammler aus Bayern, der Originale beisteuerte und so etwas wie ein Spezialist fürs Einrichten von Freizeitparks ist. Unglaublich auch, wie stabil, ja kunstvoll die Blockhäuser in der Mainstreet gebaut sind. Solide handwerkliche Arbeit, von Firmen der Region ausgeführt, wie Patrick Spieß vorsorglich versichert. Überhaupt: Von den 100 Arbeitsplätzen, die in Silver Lake City entstanden, seien 90 an Menschen der Region gegangen. Von 4004 Arbeitslosen, die in Templin gemeldet waren, fielen 90 aus der Statistik.
Hinter dem Tresen im »General Store« steht Heike Buse, um Zuckerstangen, Feuerzeuge und Zigarettenetuis zu verkaufen. Doch sie verkauft nichts, denn außer uns ist der Laden gähnend leer. In dem Kleid, das ihr bis zu den Füßen reicht und oben am Hals gerüscht ist, sieht die 39-Jährige hübsch aus. Sie war arbeitslos, bis sie hier anfing, und bevor sie arbeitslos wurde, war sie bei der Bahn beschäftigt. Es muss langweilig sein, auf Kundschaft zu warten. »Langweiliger«, weiß Heike Buse, »ist es, zu Haus rumzusitzen.«
Im »Photoshop« sagt Silke Hoffmann »cheese«, bevor sie auf den Auslöser drückt: Sie ist gelernte Erzieherin, war arbeitslos und freut sich nun, dass sich »80 Prozent der Leute, die sich mit Kleidern von damals fotografieren lassen, auf den Bildern nicht wiedererkennen«. Auch bei ihr herrscht heute Flaute. Frau Hoffmann tritt hinaus auf die Mainstreet. Gleich gibt es Action in Silver Lake City.
Zwölf Uhr mittags. Zeit für den Banküberfall. Stuntmen ballern mit Platzpatronen, stürzen in den märkischen Schlamm, um gleich wieder aufzustehen, während sich der »Undertaker«, der Bestattungsunternehmer, in einen Eichensarg verkrümelt. Zum Glück taucht der Sheriff auf. Bevor er den letzten Banditen vom Dach schießt, rettet er noch schnell Miss Kitty, die Besitzerin des Hotels, mit der er ein Schäferstündchen hatte und der nun ein Messer am hübschen Hals sitzt...
Der Sheriff heißt Raimund Döbbelin. Eigentlich ist er in Friedland zu Hause. Dort war Döbbelin Busfahrer, bis der Betrieb verkauft wurde. Zweieinhalb Jahre war Döbbelin arbeitslos, dann hörte er von Silver Lake City. Jetzt steht irgendwo da draußen am Waldrand sein Wohnmobil, in dem er sich nachts zur Ruhe bettet. Nein, richtig schlecht geht es ihm noch nicht. Im Gegenteil, es geht ihm prächtig. »Es ist toll«, grinst er, während er mit dem Ärmel seinen Sheriffstern poliert, »hier ist den ganzen Tag was los.«
Doch das stimmt nicht. Zumindest nicht heute. Miss Kitty alias Manuela Sticka kann sich beim Umziehen Zeit lassen. Denn auch der »Saloon« und die »Music-Hall«, in denen sie als Bedienung arbeitet, wenn nicht gerade die Bank überfallen wird, warten bislang vergeblich auf Gäste. Die Blondine, als sie im sauberen bodenlangen Kleid zurückkehrt, hat das zarte Make up aufgefrischt und duftet nach Maiglöckchen. Sie hatte viele Berufswünsche: Kosmetikerin, Meeresbiologin wollte sie als Kind werden. Sie wurde Eisenbahnerin. Nach der Wende schulte sie zur Referentin für Gesundheitstourismus um, »weil ich dachte, das gefällt mir«. Schließlich gibt es in der Region eine Therme, eine Rehaklinik, ein Krankenhaus, ein paar Hotels - »doch da ist kein Reinkommen«, weiß sie inzwischen. Sie habe mit dem Gedanken gespielt, einfach abzuhauen - nach Bayern, in den Harz oder ins Ausland. Das war, »bevor die Westernstadt kam«. Ihre Augen beginnen zu glänzen. Hier ist sie, wenn sie nicht gerade bedient, ja so etwas wie eine Schauspielerin! Die Gäste, wenn sie sich denn einfinden, bewundern sie und spenden Beifall. Kann sie sich noch mehr wünschen? Im Stillen weiß sie wohl, dass sie das müsste. Bald, am letzten Oktobertag, geht die Saison in Silver Lake City zu Ende. Manuela Sticka zieht langsam an einer Zigarette: »Ich darf gar nicht daran denken.«
Der »Undertaker« hat sich inzwischen den Totenkopf-Ohrring herausgehakelt. Auch er arbeitet als Bedienung. Dietmar Grosch ist gelernter Dachdecker. Nach der Wende war er in Malchin bei der Stadtwirtschaft beschäftigt, vier Jahre lang fuhr er das Ascheauto. Dann kam er als Bestatter unter. Nach anderthalb Jahren ohne Arbeit bewarb er sich in Silver Lake City. Obwohl er schon 48 ist, habe man ihn eingestellt - das rechnet er der Stadt hoch an. »Patrick geht nicht nach dem Alter oder danach, wie lange man arbeitslos war. Patrick geht nur nach der Leistung.«
Um dreizehn Uhr füllt sich die Music-Hall doch. Nicht ganz, doch immerhin ein bisschen. Wir zählen etwa 70 Besucher. Miss Kitty serviert Bier und Cola. Speisen muss man sich vom Imibss holen, es gibt chicken nuggets und spare ribs, doch die meisten halten ihr Geld zusammen. Dann spielen die Silver Lake City Gamblers. Blue Grass und Country-Musik erklingen. Eine Stimme wie die von Willie Jones muss man hier zu Lande erst mal finden. Spitze sind auch John Ely aus Texas und Wolfgang Göhringer aus Deutschland. Attraktion sind vier Can-Can-Girls, die ihre Röcke und Beine schwingen. »Nur zwei sind gelernte Tänzerinnen«, lüftet Patrick Spieß ein Geheimnis, »die anderen arbeiten als Bedienung. Eine hat sogar vier Kinder.« Ostfrauen sind heute flexibel.
Mann, was könnte hier abgehen, wenn die Music-Hall krachend voll wäre! Was könnte es abends für Konzerte, für grandiose Shows geben! Im nächsten Jahr, in der nächsten Saison, so hofft wenigstens Wolfgang Göhringer, wird es hier vor Besuchern wimmeln. Dann soll ein Raddampfer Touristen über den See nach Silver Lake City bringen. Göhringer, der viel mit Ralph Siegel, mit »Howard« und anderen »gemacht« hat, bevor ihn die elektronische Musik aus den Tonstudios vertrieb, fühlt sich im Osten wie in »einer anderen Welt«: »Jeder gibt hier jedem die Hand, man kennt kein "Hi", kein "Hallo", keine Zwischentöne.« Mittlerweile, glaubt Göhringer, versteht er die Menschen hier etwas besser. »Wenn die Stadt Ende Oktober schließt, wissen sie nicht, was aus ihnen wird. Je näher der Zeitpunkt rückt, desto mehr spürt man die Bedrückung, die sich auch auf uns überträgt - wir arbeiten hier ja als Team.«
Das Problem ist: Auch die Betreibergesellschaft, die Passauer Hindenburg Hausbau GmbH, hat die Westernstadt zum Teil aus Fördermitteln finanziert. Immerhin 6,4 Millionen Euro, also ein Drittel der Investitionen, stellte ihr die Brandenburger Investitions- und Landesbank zur Verfügung. Nun, um schwarze Zahlen zu schreiben, müssten von März bis Ende Oktober täglich 1400 Besucher kommen. Die müssten für eine Eintrittskarte 14 Euro bezahlen wollen - Kinder frei, bis einem Meter Größe. Da Kinder bis einem Meter Größe in der Regel noch nicht für Wild-West schwärmen, weil sie noch nicht lesen können, wird der Familienbesuch richtig teuer. Und wenn etwas richtig teuer wird, nutzt man das Zeitlimit bis zur Neige. Wer lange bleibt, wird irgendwann hungrig. Irgendwann muss er essen und trinken. Irgendwann lässt er sich hinreißen, irgendwo irgendwas zu kaufen...
Ich sehe ein Chinarestaurant, ein Steakhouse, in dem es Bisonfleisch gibt, ein mexikanisches Restaurant, ein Café. An keinem der Tische sitzt jemand. Wo sind die 1400 Besucher? »Am Wochenende sind sie da!«, beteuert Patrick Spieß, mein Scout. Kann schon sein, aber das reicht nicht. »Das Wetter«, sagt Spieß, »der Herbst, keine Ferien.« Die kleine mexikanische Kirche, vor der echte Kakteen wachsen und auf deren kleinem Friedhof natürlich nicht wirklich Leichen liegen, ist so verlassen wie das Fort, in dem es ein kleines Museum mit wunderbaren Exponaten der indianischen Kultur gibt. Im Fort können Schulklassen übernachten. »Kinder kennen nichts Schöneres, als Cowboy und Indianer zu spielen. Das Fort ist ausgebucht«, beharrt Patrick Spieß, »jedenfalls an den Wochenenden.«
Um vierzehn Uhr tanzen die Indianer. In einer Erdhütte gleich denen, in denen einst die Mandan lebten. Der alte Buffalo Child, die Attraktion der Westernstadt, ist abgereist. Nur Kathy Big Foot, eine Lakota, und Steven Black Stareyed Eagle, ein Tongwa, sind in der Uckermark geblieben. Das Ehepar zelebriert einen Tanz. Die Unlust, sich zur Schau zu stellen, steht der dunklen, rassigen Schönheit ins stolze Gesicht geschrieben. Ihr Ehemann dagegen »schafft« sich. Sand stiebt auf, der Beinschmuck rasselt. »Normalerweise«, erklärt Steven Black Stareyed Eagle, »tanzen 1000 Indianer diesen Tanz. Da wirkt er natürlich ganz anders.« Die Ureinwohner Amerikas habe das selbe Problem wie wir Ossis: Wir werden immer weniger. Und wenn wir nicht gerade protestieren, scheint es geradezu unmöglich, auch nur 1000 von uns zusammenzukriegen.
Patrick Spieß glaubt wie Göhringer, nächstes Jahr werde Silver Lake City sich rechnen. Dann, wenn die Stadt von Berlin bis Rostock »erst mal richtig bekannt sein wird, wenn wir richtig dafür werben«. Spontan möchten wir unseren ostdeutschen Landsleuten zurufen: Go West! Doch dorthin gingen schon zu viele. Lieber: Go to Silver Lake City? So hört man es von Berlin bis Rostock schon mehrmals täglich im Radio. Also, es klappt doch mit der Werbung. Nur dann nicht, wenn man schon fast da ist. Weil man dann sowieso nicht mehr umkehrt.

Templin. Am Röddelinsee1
www.silverlakecity.de

Mirko wollte wie Anton sein. So was klappt nie. Der Osten wollte wie Westen sein. So was klappt auch nicht, meint man zu wissen.
Doch dann fährt man nach Templin. Am malerischen Röddelinsee geht der Gleichheitstraum in Erfüllung - mehr Westen im Osten als hier ist nicht möglich. Wilder Westen! Indianer, Pferde, Bisons, Saloons, Postkutschen, Cowboys! Wo einst das Pionierlager Marschall Klement Woroschilow seine Zelte und Bungalows aufschlug, präsentiert sich nun Silver Lake City.
Allerdings präsentiert sich die Westernstadt schlecht. Erst auf der Landstraße hinter Templin, wo ein Weg auf Kiefernwald zuläuft, findet sich eine Werbefläche - weit und breit der einzige Hinweis. Das kann nicht gut sein fürs Geschäft und ist so gar nicht Wessi-like. Denn normalerweise sind Wessis, anders als gelernte Ossis, die sich schon vor fünfzehn Jahren ohne jeden Geschäftssinn verkauften, Weltmeister in Sachen Selbstdarstellung. Man tippt auf ein Zeitproblem. Irgendwie läuft die Sache wohl noch nicht so richtig.
Ängstliche Gemüter mögen aber in einem beruhigt sein: Man ist absolut sicher in Silver Lake City. Schon am elektronisch gesicherten Eingang wacht zusätzlich die Security, damit niemand ohne Ticket hineinkommt; die Jungs haben sich als Ranger verkleidet. Außerdem gibt es einen Sheriff. Der schüttelt das wilde Haupt- und Barthaar, trägt eine Pistole im Holster, einen Colt in jedem Stiefel und am Gürtel Handschellen. Die braucht er auch, denn nach Silver Lake City zieht es Goldgräber, Desperados, Banditen. Manchmal muss er welche festnehmen oder über den Haufen schießen. Im Augenblick ist der Knast belegt. Ein Indianer aus Plastik sitzt drin. »Wir haben auch echte hier«, sagt der Sheriff, »die verhafte ich aber nicht, die tanzen jeden Tag um zwei, und die Frau ist eine Schönheit.«
Ich habe, während ich dies schreibe, noch die Handystimme von Pressesprecher Siggi Schiemann aus München im Ohr: »Erfüllen Sie das Ganze mit Liebe.« Ich sehe förmlich, wie Patrick Spieß, Manager von Silver Lake City, der mich einen Tag lang begleitete, verstimmt die Zeitung aus der Hand legt. Seit die »Westernstadt Ihrer Träume« gerade noch rechtzeitig vor Ende der Brandenburger Sommerferien im Juli eröffnete, hat sie einige Imageprobleme. Die sie nicht hätte, wären zuvor nicht Millionen Fördermittel für Euro Speedway, Cargolifter und Chipfabrik im märkischen Sand versickert. Die sie nicht hätte, würde der Aufbau Ost im Jahre vierzehn der Einheit hoffnungsvoll stimmen. Die sie nicht hätte, würde nicht jeder vierte Templiner oder Zehdenicker Arbeit suchen und keine finden. Menschen, die nicht arbeiten dürfen, die keine Chance haben sich zu beweisen, müssen Silver Lake City als Witz empfinden. In den Medien wird Silver Lake City als Karikatur des Aufschwungs gezeichnet.
Das ist ein bisschen ungerecht, finden Siggi Schiemann und Patrick Spieß. Denn es ist schön in Silver Lake City. Die Stadt am Silber-, Pardon, Röddelinsee ist so etwas wie ein Erlebnispark auf 70 000 Quadratmetern. Wild-West im 19. Jahrhundert zum Sehen, Hören, Anfassen. In der Mainstreet gibt es einen Friseurladen, originalgetreu bestückt mit Badewanne und Zahnarztstuhl - Gott sei Dank, dass hier nichts in Betrieb ist. Es gibt einen »Drugstore« zum Anschauen, »Books and Newspapers«, wo man sein Konterfei auf einem Steckbrief drucken lassen kann, ein Hotel mit neun Zimmern und einer Suite, »Guns« und ein »Clothing Emporium«, in dessen Regalen »Western ware« liegt - Himmel, wer zieht so was an? Patrick Spieß: »Wir leben in einem freien Land.« Unglaublich die Detailtreue, mit der alles rekonstruiert ist, von der Lampfe bis hin zur Blechbüchse. Ausgestattet wurde die Stadt von Heinz Bründl, einem Sammler aus Bayern, der Originale beisteuerte und so etwas wie ein Spezialist fürs Einrichten von Freizeitparks ist. Unglaublich auch, wie stabil, ja kunstvoll die Blockhäuser in der Mainstreet gebaut sind. Solide handwerkliche Arbeit, von Firmen der Region ausgeführt, wie Patrick Spieß vorsorglich versichert. Überhaupt: Von den 100 Arbeitsplätzen, die in Silver Lake City entstanden, seien 90 an Menschen der Region gegangen. Von 4004 Arbeitslosen, die in Templin gemeldet waren, fielen 90 aus der Statistik.
Hinter dem Tresen im »General Store« steht Heike Buse, um Zuckerstangen, Feuerzeuge und Zigarettenetuis zu verkaufen. Doch sie verkauft nichts, denn außer uns ist der Laden gähnend leer. In dem Kleid, das ihr bis zu den Füßen reicht und oben am Hals gerüscht ist, sieht die 39-Jährige hübsch aus. Sie war arbeitslos, bis sie hier anfing, und bevor sie arbeitslos wurde, war sie bei der Bahn beschäftigt. Es muss langweilig sein, auf Kundschaft zu warten. »Langweiliger«, weiß Heike Buse, »ist es, zu Haus rumzusitzen.«
Im »Photoshop« sagt Silke Hoffmann »cheese«, bevor sie auf den Auslöser drückt: Sie ist gelernte Erzieherin, war arbeitslos und freut sich nun, dass sich »80 Prozent der Leute, die sich mit Kleidern von damals fotografieren lassen, auf den Bildern nicht wiedererkennen«. Auch bei ihr herrscht heute Flaute. Frau Hoffmann tritt hinaus auf die Mainstreet. Gleich gibt es Action in Silver Lake City.
Zwölf Uhr mittags. Zeit für den Banküberfall. Stuntmen ballern mit Platzpatronen, stürzen in den märkischen Schlamm, um gleich wieder aufzustehen, während sich der »Undertaker«, der Bestattungsunternehmer, in einen Eichensarg verkrümelt. Zum Glück taucht der Sheriff auf. Bevor er den letzten Banditen vom Dach schießt, rettet er noch schnell Miss Kitty, die Besitzerin des Hotels, mit der er ein Schäferstündchen hatte und der nun ein Messer am hübschen Hals sitzt...
Der Sheriff heißt Raimund Döbbelin. Eigentlich ist er in Friedland zu Hause. Dort war Döbbelin Busfahrer, bis der Betrieb verkauft wurde. Zweieinhalb Jahre war Döbbelin arbeitslos, dann hörte er von Silver Lake City. Jetzt steht irgendwo da draußen am Waldrand sein Wohnmobil, in dem er sich nachts zur Ruhe bettet. Nein, richtig schlecht geht es ihm noch nicht. Im Gegenteil, es geht ihm prächtig. »Es ist toll«, grinst er, während er mit dem Ärmel seinen Sheriffstern poliert, »hier ist den ganzen Tag was los.«
Doch das stimmt nicht. Zumindest nicht heute. Miss Kitty alias Manuela Sticka kann sich beim Umziehen Zeit lassen. Denn auch der »Saloon« und die »Music-Hall«, in denen sie als Bedienung arbeitet, wenn nicht gerade die Bank überfallen wird, warten bislang vergeblich auf Gäste. Die Blondine, als sie im sauberen bodenlangen Kleid zurückkehrt, hat das zarte Make up aufgefrischt und duftet nach Maiglöckchen. Sie hatte viele Berufswünsche: Kosmetikerin, Meeresbiologin wollte sie als Kind werden. Sie wurde Eisenbahnerin. Nach der Wende schulte sie zur Referentin für Gesundheitstourismus um, »weil ich dachte, das gefällt mir«. Schließlich gibt es in der Region eine Therme, eine Rehaklinik, ein Krankenhaus, ein paar Hotels - »doch da ist kein Reinkommen«, weiß sie inzwischen. Sie habe mit dem Gedanken gespielt, einfach abzuhauen - nach Bayern, in den Harz oder ins Ausland. Das war, »bevor die Westernstadt kam«. Ihre Augen beginnen zu glänzen. Hier ist sie, wenn sie nicht gerade bedient, ja so etwas wie eine Schauspielerin! Die Gäste, wenn sie sich denn einfinden, bewundern sie und spenden Beifall. Kann sie sich noch mehr wünschen? Im Stillen weiß sie wohl, dass sie das müsste. Bald, am letzten Oktobertag, geht die Saison in Silver Lake City zu Ende. Manuela Sticka zieht langsam an einer Zigarette: »Ich darf gar nicht daran denken.«
Der »Undertaker« hat sich inzwischen den Totenkopf-Ohrring herausgehakelt. Auch er arbeitet als Bedienung. Dietmar Grosch ist gelernter Dachdecker. Nach der Wende war er in Malchin bei der Stadtwirtschaft beschäftigt, vier Jahre lang fuhr er das Ascheauto. Dann kam er als Bestatter unter. Nach anderthalb Jahren ohne Arbeit bewarb er sich in Silver Lake City. Obwohl er schon 48 ist, habe man ihn eingestellt - das rechnet er der Stadt hoch an. »Patrick geht nicht nach dem Alter oder danach, wie lange man arbeitslos war. Patrick geht nur nach der Leistung.«
Um dreizehn Uhr füllt sich die Music-Hall doch. Nicht ganz, doch immerhin ein bisschen. Wir zählen etwa 70 Besucher. Miss Kitty serviert Bier und Cola. Speisen muss man sich vom Imibss holen, es gibt chicken nuggets und spare ribs, doch die meisten halten ihr Geld zusammen. Dann spielen die Silver Lake City Gamblers. Blue Grass und Country-Musik erklingen. Eine Stimme wie die von Willie Jones muss man hier zu Lande erst mal finden. Spitze sind auch John Ely aus Texas und Wolfgang Göhringer aus Deutschland. Attraktion sind vier Can-Can-Girls, die ihre Röcke und Beine schwingen. »Nur zwei sind gelernte Tänzerinnen«, lüftet Patrick Spieß ein Geheimnis, »die anderen arbeiten als Bedienung. Eine hat sogar vier Kinder.« Ostfrauen sind heute flexibel.
Mann, was könnte hier abgehen, wenn die Music-Hall krachend voll wäre! Was könnte es abends für Konzerte, für grandiose Shows geben! Im nächsten Jahr, in der nächsten Saison, so hofft wenigstens Wolfgang Göhringer, wird es hier vor Besuchern wimmeln. Dann soll ein Raddampfer Touristen über den See nach Silver Lake City bringen. Göhringer, der viel mit Ralph Siegel, mit »Howard« und anderen »gemacht« hat, bevor ihn die elektronische Musik aus den Tonstudios vertrieb, fühlt sich im Osten wie in »einer anderen Welt«: »Jeder gibt hier jedem die Hand, man kennt kein "Hi", kein "Hallo", keine Zwischentöne.« Mittlerweile, glaubt Göhringer, versteht er die Menschen hier etwas besser. »Wenn die Stadt Ende Oktober schließt, wissen sie nicht, was aus ihnen wird. Je näher der Zeitpunkt rückt, desto mehr spürt man die Bedrückung, die sich auch auf uns überträgt - wir arbeiten hier ja als Team.«
Das Problem ist: Auch die Betreibergesellschaft, die Passauer Hindenburg Hausbau GmbH, hat die Westernstadt zum Teil aus Fördermitteln finanziert. Immerhin 6,4 Millionen Euro, also ein Drittel der Investitionen, stellte ihr die Brandenburger Investitions- und Landesbank zur Verfügung. Nun, um schwarze Zahlen zu schreiben, müssten von März bis Ende Oktober täglich 1400 Besucher kommen. Die müssten für eine Eintrittskarte 14 Euro bezahlen wollen - Kinder frei, bis einem Meter Größe. Da Kinder bis einem Meter Größe in der Regel noch nicht für Wild-West schwärmen, weil sie noch nicht lesen können, wird der Familienbesuch richtig teuer. Und wenn etwas richtig teuer wird, nutzt man das Zeitlimit bis zur Neige. Wer lange bleibt, wird irgendwann hungrig. Irgendwann muss er essen und trinken. Irgendwann lässt er sich hinreißen, irgendwo irgendwas zu kaufen...
Ich sehe ein Chinarestaurant, ein Steakhouse, in dem es Bisonfleisch gibt, ein mexikanisches Restaurant, ein Café. An keinem der Tische sitzt jemand. Wo sind die 1400 Besucher? »Am Wochenende sind sie da!«, beteuert Patrick Spieß, mein Scout. Kann schon sein, aber das reicht nicht. »Das Wetter«, sagt Spieß, »der Herbst, keine Ferien.« Die kleine mexikanische Kirche, vor der echte Kakteen wachsen und auf deren kleinem Friedhof natürlich nicht wirklich Leichen liegen, ist so verlassen wie das Fort, in dem es ein kleines Museum mit wunderbaren Exponaten der indianischen Kultur gibt. Im Fort können Schulklassen übernachten. »Kinder kennen nichts Schöneres, als Cowboy und Indianer zu spielen. Das Fort ist ausgebucht«, beharrt Patrick Spieß, »jedenfalls an den Wochenenden.«
Um vierzehn Uhr tanzen die Indianer. In einer Erdhütte gleich denen, in denen einst die Mandan lebten. Der alte Buffalo Child, die Attraktion der Westernstadt, ist abgereist. Nur Kathy Big Foot, eine Lakota, und Steven Black Stareyed Eagle, ein Tongwa, sind in der Uckermark geblieben. Das Ehepar zelebriert einen Tanz. Die Unlust, sich zur Schau zu stellen, steht der dunklen, rassigen Schönheit ins stolze Gesicht geschrieben. Ihr Ehemann dagegen »schafft« sich. Sand stiebt auf, der Beinschmuck rasselt. »Normalerweise«, erklärt Steven Black Stareyed Eagle, »tanzen 1000 Indianer diesen Tanz. Da wirkt er natürlich ganz anders.« Die Ureinwohner Amerikas habe das selbe Problem wie wir Ossis: Wir werden immer weniger. Und wenn wir nicht gerade protestieren, scheint es geradezu unmöglich, auch nur 1000 von uns zusammenzukriegen.
Patrick Spieß glaubt wie Göhringer, nächstes Jahr werde Silver Lake City sich rechnen. Dann, wenn die Stadt von Berlin bis Rostock »erst mal richtig bekannt sein wird, wenn wir richtig dafür werben«. Spontan möchten wir unseren ostdeutschen Landsleuten zurufen: Go West! Doch dorthin gingen schon zu viele. Lieber: Go to Silver Lake City? So hört man es von Berlin bis Rostock schon mehrmals täglich im Radio. Also, es klappt doch mit der Werbung. Nur dann nicht, wenn man schon fast da ist. Weil man dann sowieso nicht mehr umkehrt.

Templin. Am Röddelinsee1
www.silverlakecity.de


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