Ölkrise ließ auf Atomkraft hoffen
Als während der 60er Jahre in den USA, in Europa und der UdSSR die ersten KKW erschienen, war die Atomenergie noch kostspielig und die Programme für ihre Entwicklung galten als experimentell. Das änderte sich von Grund auf im Ergebnis der Ölkrise, die der arabisch-israelische Krieg von 1973 heraufbeschwor Der enorme Anstieg der Ölpreise löste in Europa, den USA und in Japan eine „Energie-Panik“ aus. In der vorhergehenden
Dekade hatte man überall Kraftwerke von der Kohleverbrennung auf die billige Heizölfeuerung umgestellt. In Japan beispielsweise wurden in den 50er Jahren 80 Prozent der Elektrizität aus Kohle gewonnen, 14 Prozent kamen von Wasserkraftwerken und nur sechs Prozent wurden durch Öl und Ölprodukte erzeugt. Um 1969 deckte Japan 70 Prozent seines gesamten Energieverbrauchs aus öl. Ähnliche Umstellungen vollzogen sich in anderen Ländern, weil Öl - das nur zwei Dollar pro Faß kostete - im Zeitraum von 1958 bis 1973 einen billigeren industriellen Brennstoff darstellte als die Kohle.
Unerwartet stieg jedoch der Ölpreis in drei Jahren, von 1973 bis 1976, auf das Zehnfache und kletterte weiter. Unter diesen Umständen wurde die Atomenergie als ein Retter angesehen. In der sehr kurzen Spanne von 1974 bis 1986 wurden in einer Reihe Länder rund 250 Kernreaktoren neu errichtet. Um 1986 kamen 70 Prozent der französischen, 67 Prozent der belgischen, 50 Prozent der schwedischen und 25 Prozent der amerikanischen Elektroenergie aus Atomstationen.
~t Die. Sowjetunion schloß sieh ? dem Atomenergie-Wettrennen ^ 'etwas spater als andere Läri3er i * und aus anderen Gründen an. Durch den Anstieg der Weltmarktpreise des Erdöls war es für die UdSSR vorteilhafter, die Ölexporte zu erhöhen und zugleich für den Eigenbedarf Elektrizität aus Atombrennstoff zu erzeugen. 1973 existierten in der UdSSR 13 Atomreaktoren. In den wichtigsten Kernkraftwerken jener Periode, in Kursk, Smolensk, Leningrad und Tschernobyl, waren die Reaktoren der ersten Generation mit Graphit-Moderatoren für Neutronen, bekannt als RBMK-1000, installiert.
Zu Beginn der 70er Jahre besaß die UdSSR noch nicht die technische Fähigkeit, Druckwasserreaktoren (WWER) mit 1000 MW Leistung zu bauen. WWER-Reaktoren mit 440 MW wurden in Armenien und auf der Kola-Halbinsel errichtet, sie wurden auch nach Osteuropa exportiert. Als zum Ende der 70er Jahre die Weltölpreise mit 40 Dollar pro Faß ihren Zenith erklommen, setzte man ein Programm des beschleunigten Baus von Atomreaktoren in Gang. 49 Reaktoren verschiedener Typen, darunter der RBMK-1500, wurden bis 1986 in Betrieb genommen, weitere 20 befanden sich in verschiedenen Phasen des Aufbaus. Fast das halbe Programm beruhte auf Reaktoren des Tschernobyl-Typs, und man plante, die Leistung bestimmter dieser Reaktoren von 1000 auf 2500 MW zu erhöhen.
Von 1985 bis 1990 sollten entsprechend dem Plan 40 Großreaktoren und bis zum Jahre 2000 weitere 100 errichtet werden. Es war ins Auge gefaßt, daß die UdSSR die USA (wo 109 Kernreaktoren standen) überholt und fast zweimal soviel Atomstrom erzeugt wie diese. Alle diese Pläne wurden nach dem Tscher-
nobyl-Ungluck aufgeschoben. Und das brachte, wie sich bald zeigte, ökonomischen Gewinn.
Es ist weitaus teurer, Kernkraftwerke zu errichten, als Kraftwerke für fossile Brennstoffe zu bauen. Der wirtschaftliche Gewinn eines AKW tritt erst nach einiger Betriebsdauer ein, weil der Gebrauch des kompakten Uranbrennstoffs die Transportkosten stark reduziert. Darüber hinaus belasten die AKW nicht die Atmosphäre mit Kohlendioxyd und anderen Oxyden, sie produzieren auch keinen „sauren Regen“ Aber nach jedem ernsteren Betriebsunfall in einem AKW werden zahllose -neue Sich^rheitsfbrderungen an die Kons|rüJ<fi!Üis^f^|}ler und Erbauer gestellt, die die Bauzeiten verlängern und die Baukosten erhöhen.
Nach dem Unglück von Tschernobyl mußten beispielsweise an allen in der Sowjetunion bereits errichteten RBMK-1000 und RBMK-1500-Reaktoren bedeutende Veränderungen vorgenommen werden. Das Unglück hatte auch neue Anforderungen an die WWER-400 und WWER-1000-Reaktoren zur Folge, besonders an ihre Kontroll- und Meßanlagen, an die automatischen und an die Sicherheitssyteme. Auch in anderen Ländern unterzog man die Sicherheitssysteme von Reaktoren einer gründlichen Revision. Die neuen Sicherheitserfordernisse erhöhten die Kosten des Atomstroms.
Gleichzeitig begannen 1986 unerwartet die Preise für Erdöl und andere fossile Brennstoffe zu fallen. Im Sommer 1986 kostete ein Faß Öl nur noch 10 Dollar, was etwa dem Preis der 60er Jahre entsprach, wenn man die Inflation berücksichtigt. Zwischen 1980 und 1985 war Atomstrom noch relativ billig gewesen. Aber nach 1986 wurde es wieder preisgünstiger, Elektrizität aus der Verbrennung von Erdöl oder Heizöl zu gewinnen. Darüber hinaus erwiesen sich Kraftwerke auf Erdgas-Basis zunehmend als die am einfachsten und billigsten zu errichtenden. Kraftwerke mit Gasturbinen verursachten weniger Luftverschmutzung als ölbefeuerte Stationen.
Das billige Öl und Gas warfen auch die Kalkulationen der sowjetischen Planer über den Haufen, auf die sie die Strategie des erhöhten Exports von Kohlewasserstoffen und
gleichzeitigen Ersetzens von 01- und Kohlekraftwerken durch AKW gestützt hatten. Hätte die UdSSR tatsächlich 40
neue Reaktoren bis 1990 aufgebaut und in Betrieb gesetzt sowie den Aufbau weiterer 30 bis 40 in Angriff genommen, wäre dies eine riesige Verschwendung gewesen. Die nach Tschernobyl dominierende Tendenz, Erdgaskraftwerke zu errichten, erwies sich schließlich aus ökonomischer Sicht als völlig richtig. Heute gewinnt man in Rußland 60 Prozent der gesamten Elektroenergie aus Kraftstationen, die auf der Basis von Erdgas arbeiten.
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