Absage an die Leidenschaft

»Quartett« von und - »ein einmaliger humanitärer Akt« - mit Heiner Müller im Theater im Palast

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.
Am Abend des 2. Oktober 1989 waren die Straßen um den Palast der Republik bereits abgesperrt. Motoren dröhnten, Schützenpanzer rollten, Kommandos schallten aus Lautsprecherboxen. Einheiten der NVA probten für die Parade zum 40. Geburtstag der DDR.
»Es war eine surreale Stimmung«, erinnert sich Detlev Schneider. »Im Lande brodelte es, und hier wurde Normalität simuliert. Man konnte den Eindruck gewinnen, die Staatsmacht lässt jetzt die Muskeln spielen.« Egon Krenz hatte sich vor wenigen Tagen von der chinesischen Partei- und Staatsführung erklären lassen, wie sie mit revoltierenden Arbeitern, Studenten und Soldaten umgegangen war. Das Geräusch von Panzerketten auf Asphalt, der Anblick von militärischem Gerät auf einem zentralen Platz der Stadt sorgte in jenen Tagen für besondere Anspannung.
Schneider, Kulturwissenschaftler und Theaterenthusiast, behielt die Szene vor allem deshalb so stark in Erinnerung, weil er zu einer Theateraufführung, zu Heiner Müllers »Quartett« im Theater im Palast, wollte. Wie andere Zuschauer auch, musste Schneider Umwege in Kauf nehmen, um zum Palast der Republik zu gelangen. »Wir haben bestimmt eine halbe Stunde später angefangen«, erinnert sich Vera Oelschlegel, Intendantin des TiP und in der Inszenierung als Merteuil zu sehen. Immer wieder trafen einzelne Besucher ein.
Mehr noch als auf das Publikum wartete Oelschlegel auf Heiner Müller. Der Dramatiker hatte der Intendantin und Hauptdarstellerin sein Erscheinen zugesagt. Er sollte direkt vom Flughafen kommen. Zu Vera Oelschlegel hatte er vor ein paar Tagen gesagt: »Wir müssen etwas unternehmen.«
Oelschlegel hatte vorher zwei Anrufe erhalten. Einen von Bernd Peschke, dem Regisseur von »Quartett«. Und einen von Manfred Ernst. Ernst spielte den Valmont in diesem Zwei-Personen-Stück. Beide hatten Oelschlegel mitgeteilt, dass sie über Ungarn in den Westen geflüchtet seien. Der Exodus der DDR schlug sich nun auch auf den aktuellen Spielbetrieb im Theater nieder.
Müller und Oelschlegel wollten nicht, dass die Vorstellung ausfällt. Sie wollten auch nicht zur Tagesordnung übergehen. Müller hatte viel von dem jungen Regisseur aus Nordhausen gehalten. Die Premiere im April 1989 fand in der Kritik zwar nur matte Aufnahme, doch hatte sich Peschke als Visionär erwiesen. Den Schlagabtausch der alternden Liebesbestien Merteuil und Valmont hatte er zwischen TV-Geräte, Fußball (Bundesliga!) und Opernarien arrangiert - und damit die neuen Parameter der Unterhaltung vorweggenommen. Peschke sollte am TiP auch Müllers »Auftrag« inszenieren. Die Parteileitung des TiP stellte sich dagegen. »Wir sind doch kein Müllertheater«, hieß es, entsinnt sich Oelschlegel. »Peschke und Ernst sahen dann keine berufliche Perspektive mehr«, vermutet sie.
Am Abend des 2. Oktober 1989 spielte sie die Merteuil. Wie immer. Sie hatte ein kurzes, schwarzes Kleid. Die blonden Haare waren streng nach hinten gekämmt. Sie bewegte sich langsam, lauernd, gefährlich wie ein Raubtier. Sie gab keinen Ton von sich und ließ sich voller lasziver Spannung auf dem Klavier nieder. Eine Arie aus Bizets »Perlenfischer« erklang.
Heiner Müller betrat die Bühne, die ins Treppenhaus des Palastes der Republik verlagert war. Er nahm Platz auf einem Stuhl aus Aluminiumrohr, stellte eine Wasserflasche, ein Glas, einen Aschenbecher und Zigarren auf einem Tisch aus Alu-Rohr ab. Er goss sich ein, räusperte sich und sprach: »Die Leitung des Hauses hat mich gebeten - weil der Darsteller des Valmont und leider auch der Regisseur in den Wirren der Zeit abhanden gekommen sind. Sie müssen nicht befürchten, dass ich Schauspieler werden will. Es handelt sich um einen einmaligen humanitären Akt.«
Von Vera Oelschlegel kamen dann die ersten Worte aus »Quartett«, langsam, leiernd, mechanisch. Das Reden schien eine Qual. Merteuil befand, dass keine Leidenschaft mehr aufflammen, dass sich das Herz nie mehr entzünden würde. Die Worte der Merteuil an Valmont waren an diesem 2. Oktober nicht nur eine Absage an die Leidenschaft des Fleisches; sie waren eine Absage an eine Leidenschaft, die für manche DDR hieß.
Das Publikum hielt den Atem an. Durch die Fenster fiel der Blick auf die Straße Unter den Linden. Noch immer rollten dort Panzer. Vera Oelschlegel spielte exzessiv. Müller, am Tisch sitzend, rauchend, trinkend und das Manuskript vor Augen, warf lakonisch Sätze wie Messer ein. »Hier steht Pause«, sagte er. »Ich lese jetzt einen Text, der nichts mit dem Ganzen zu tun hat. Es ist ein Text aus der ungarischen Geschichte. Daily News nach Brecht 1989. Die ausgerissenen Fingernägel des Janos Kadar / Der die Panzer gegen sein Volk rief als es anfing / Seine Genossen Folterer an den Füßen aufzuhängen / Sein Sterben als der verratne Imre Nagy /Ausgegraben wurde oder der Rest von ihm / Bones and Shoes Das Fernsehen war dabei / Verscharrt mit dem Gesicht zur Erde 1956 / Wie wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Wieviel Erde werden wir fressen müssen / Mit dem Blutgeschmack unserer Opfer / Auf dem Weg in die bessere Zukunft /Oder in keine / Wenn wir sie ausspein«.
»Die Zeit stand in diesem Moment still«, erinnert sich Schneider. Geschichte verdichtete sich. Ungarn, China, DDR. Die Merteuil spielte weiter. Sie hatte einen Hut auf, wie ihn Humphrey Bogart trug. Als sie sagte: »Wollen wir einander aufessen, Valmont, damit die Sache ein Ende hat?« sah der Hut aus wie eine von Honeckers Kopfbedeckungen. Die Sätze waren hart, kalt, zynisch. Tobte so die Abrechnung im Politbüro? Für Merteuil und Valmont blieb nur der Tod. Sie bereiteten die eigene Totenmesse.
Das Publikum schien wie betäubt. Dann Beifall. Vera Oelschlegel war ausgelaugt. »Da kamen dem Mädchen die Tränen«, kommentiert sie die Szene beim Applaus.
»Auf dem Heimweg sind unser Auto und das von Müller die einzigen zivilen Fahrzeuge«, schildert sie dann. »An einer Kreuzung werden wir voneinander getrennt. Schützenpanzer, Gulaschkanonen und Armeejeeps sind zwischen uns.«
Fünf Tage später lösten Polizeieinheiten gewaltsam Protestdemonstrationen auf dem Alexanderplatz auf, die sich am Rande der Feiern zum DDR-Geburtstag gebildet hatten. Unter den Zusammengeschlagenen befand sich Vera Oelschlegels Tochter Nina Rücker, die als Fotografin für die Redaktion »Freie Welt« tätig war. Vera Oelschlegel war auf dem Weg nach Luxemburg, zu einem Gastspiel von »Quartett« - mit Heiner Müller als Sprecher. Es war die letzte Aufführung dieser Produktion.
Müller inszenierte später im Berliner Ensemble das Stück mit Martin Wuttke und Marianne Hoppe. Bernd Peschke wollte, nachdem die Mauer gefallen war, wieder zurück nach Ostberlin. Bei seiner Rückkehr verunglückte er tödlich. Detlev Schneider organisierte zum Ende der DDR die Abschlussparty des DDR-Kulturministeriums. Er ist jetzt designierter künstlerischer Leiter des Podewil. Vera Oelschlegel gründete 1990 das »Theater des Ostens«, das vornehmlich im Westen auf Tournee ist. 1999 spielte sie in der Regie von Manfred Wekwerth wieder die Merteuil, diesmal in einer Dramatisierung des Briefromans »Gefährliche Liebschaften« von Choderlos de Laclos, der Vorlage von Müllers »Quartett«.

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