Zur Bedeutung der arabischen Dichtung für die deutsche und europäische Literatur »Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen«

  • Katharina Mommsen, Stanford
  • Lesedauer: ca. 9.0 Min.

Katharina Mommsen lebt als Professor emerita der Stanford University in Kalifornien. Zu ihren wichtigsten Werken gehören »Goethe und der Islam«, »Goethe und die arabische Welt«, »Goethe. Die Kunst des Lebens« und die kommentierte Faksimileausgabe des »West-östlichen Divan« (alle erschienen im Insel Verlag).


Es ist stets ein Zeichen gesunder Selbstsicherheit, wenn ein schöpferisches Individuum sich nicht vor der Verbindung mit dem Andersartigen scheut, sondern sich freudig mit ihm auseinander setzt und auch dankbar annimmt, was der andere zu geben hat und was ihm selber fehlt.
Das gleiche gilt für Völker und Zivilisationen, deren Selbstsicherheit sich ebenso in der Bereitschaft zur Aufgeschlossenheit anderen Kulturen gegenüber spiegelt. So war es ein Zeichen von Selbstgewissheit und eigenem kulturellen Hochstand, dass die alten Griechen »das beweglichste und mischlustigste antike Volk« waren. Demgegenüber ist die Tendenz mancher Regierungen und Völker, sich in Besorgnis um die Reinerhaltung der eigenen Art ängstlich von anderen Zivilisationen abzuschließen, ein bedenkliches Zeichen der Schwäche und kulturellen Niedergangs.
Warum so viele Leser im Westen gar nicht wissen, welchen großen Beitrag die arabische Dichtkunst zur Weltliteratur geleistet hat - wirft man diese Frage in Gesellschaft auf, so wird oft argumentiert: Das läge an der ungeheuren Masse des aus allen Kulturen der Welt Überkommenen, die selbst von einem bildungshungrigen Mitteleuropäer nicht mehr zu bewältigen sei. Zugegeben, und doch ist zu fragen, warum sich die deutsche Leserschaft eher dem Fernsten Osten oder dem historisch weit zurückliegenden Hellas als der geographisch und zeitlich näheren arabischen Welt öffnet. Ein Beispiel: Jeder einigermaßen Belesene weiß, dass zur Ausbildung der traditionellen Geishas in Japan Poesie, Kalligraphie und Musik gehörten. Ebenso weiß man, dass auch die Hetären im alten Griechenland musisch höchst gebildet waren. Wer aber weiß, dass eine große Gruppe islamischer Dichterinnen aus hochgebildeten, auch in Musik und Kalligraphie geschulten Singsklavinnen bestand, die an Höfen und in Palästen des islamischen Orients lebten?! Ihr Lebenszuschnitt war dem der Geishas und der Hetären sehr ähnlich. Ich gestehe selber, erst durch Annemarie Schimmels neuestes Buch über die »Gedichte von Frauen aus der arabischen Welt« davon erfahren zu haben.
Die Uninformiertheit des europäischen Lesepublikums auf dem Gebiet der arabischen Literatur hat Parallelen im Bereich der bildenden Künste; von allen Künsten weiß man im Westen über die islamische Kunst am allerwenigsten. Erst der Schreck über den Politislam löste bei vielen Lesern das Bedürfnis aus, sich über die muslimische Religion genauer zu orientieren. Infolgedessen tauchte auf dem Buchmarkt eine nie gekannte Fülle von Büchern über den Islam auf; dieser Welle schloss sich eine bis dahin nie gesehene Fülle von Bildbänden über islamische Kunst an - eine sehr begrüßenswerte »Nebenwirkung« erschreckender politischer Entwicklungen.
Zu diesen positiven »Nebenwirkungen« gehört auch, dass die europäische Öffentlichkeit von arabischen Dichtern Notiz nimmt, seit - wiederum aus bedauerlichen politischen Gründen - so hervorragende Repräsentanten der zeitgenössischen arabischen Poesie wie der syrisch-libanesische Dichter Adonis, der Palästinenser Mahmoud Darwish, der Syrer Fuad Rifka und viele andere mehr in Europa leben. Das betrifft auch arabische Dichterinnen, wie etwa die in Bagdad geborene Irakerin Amal Al-Djuburi, die während ihres politischen Exils in Berlin eine Zeitschrift für arabische und deutsche Poesie, »Diwan«, herauszugeben begann und nun in Bagdad ein deutsch-arabisches Kulturinstitut aufbaut.
Immerhin ist zu bedenken, dass die arabische Sprachgemeinschaft zweihundert Millionen Menschen umfasst, deren religiöses Medium die Sprache des Qur'an ist und die auch die vor über tausend Jahren geschriebenen Verse der klassischen arabischen Dichtung lesen und genießen können.
Wir, denen die Weltliteratur viel bedeutet, sollten uns ungescheut zu unserer kulturellen Dankesschuld gegenüber den Arabern bekennen. Denn es ist ja eigentlich kein Geheimnis, dass die deutschsprachige Literatur der arabischen viel zu verdanken hat, seit es in den frühen Jahrhunderten des Islam durch das Vordringen der Araber in den Südwesten und Südosten Europas und durch die europäischen Kreuzzüge in Richtung Jerusalem zu feindseligen Berührungen kam. Nicht zufällig kam erst seit den Kreuzzügen ein märchenhaftes Erzählen mit spürbarer Freude am Fabelhaften und Wunderbaren auf, nicht zufällig wimmelte es plötzlich in der Spielmannsepik von Anklängen an Stoffe, Märchenmotive und erzählerische Mittel, wie sie sich in frühen arabischen »1001 Nacht«-Handschriften finden, die ihrerseits vielfach auf indischen und persischen Motiven beruhten, denn dieses große Sammelwerk ist ja bereits ein Mischprodukt verschiedener Völker und Kulturen.
Das so genannte »christliche Abendland« hat sich seit Jahrhunderten dagegen gesträubt, solche Einflüsse zur Kenntnis zu nehmen. Viele im christlichen Denken verankerte Europäer reagierten höchst irritiert, als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts der katholische Priester und Professor für Arabistik an der Universität Madrid, Miguel Asín y Palacios nachwies, dass die Theologie des Hl. Thomas von Aquino stark beeinflusst war durch den 1126 in Córdoba geborenen arabischen Philosophen Averrhoës. Noch mehr schockierte Asín Palacios, als er nach 25-jähriger Auseinandersetzung mit den Quellen zu Dantes »Göttlicher Komödie« 1919 in seinem Buch »La Escatología musulmana en la Divina Comedia« unzählige Beweise dafür erbringen konnte, dass Dante viel Sympathie für die arabische Kultur und sehr genaue Kenntnisse der Geschichte des Islam besaß. Der Schock schlug sich in Hunderten von Publikationen nieder, von denen viele pamphletartigen Charakter trugen, denn bis dahin hatte es keinerlei Zweifel gegeben, dass die »Divina comedia« gewissermaßen die gesamte Kultur des christlichen mittelalterlichen Europa symbolisierte. Über ein halbes Jahrhundert verstrich, ehe Asíns Buch überhaupt ins Italienische übersetzt wurde; man wehrte sich eben gegen die Vorstellung, dass das berühmteste Meisterwerk italienischer Dichtkunst arabischen Modellen so viel zu verdanken haben sollte.
Dantes »Comedia« ist ein Beispiel dafür, dass die Giganten der Weltliteratur sich nicht durch religiös-dogmatische Restriktionen ihrer Zeit oder national-patriotische Gesinnungen ihrer Landsleute einengen lassen. Das zeigen schon Homers Epen, in denen die Gegner der Griechen mit Hochachtung behandelt werden. Das gleiche Über-den-Parteien-Stehen zeichnet auch die großen Tragödiendichter Aischylos und Euripides aus. Ein anderes hervorragendes Beispiel solcher Souveränität bietet Calderón, der zwar als katholischer Geistlicher und Hofdichter in Madrid an religiöse und vaterländische Konventionen gebunden war, aber dennoch in seinen Werken den islamischen Gegnern seines Vaterlandes und seiner Kirche hohe Achtung erwies. Diese Noblesse bewunderte schon Goethe. Es ist der Freisinn, um den Goetheschen Ausdruck zu gebrauchen, der die allergrößten Dichter auszeichnet, das über den Parteien, über den weltlichen Händeln, über allen geistigen und geistlichen Einschränkungen Stehen. Hierdurch wiederum üben ihre Werke befreiende Wirkungen auf empfängliche Leser aus.
Auch die arabische Literatur hat solche bedeutenden Dichter hervor-gebracht. Man denke an den großen Al-Mutanabbi, auf den Goethe schon als Student in Leipzig aufmerksam wurde, als Johann Jacob Reiske, der hervorragendste Arabist seiner Zeit, gerade eine Auswahl von Gedichten Mutanabbis übersetzt und herausgegeben hatte.
Fragt man heutige deutsche Leser, welche Werke der arabischen Literatur sie kennen, so fällt ihnen als erstes »1001 Nacht« ein. Noch jeder hat die eine oder andere Lieblingsgestalt oder Lieblingsgeschichte im Gedächtnis. Das Merkwürdige ist nun aber, dass diese Erzählungen in den arabischen Ländern nicht eigentlich zur »Literatur« zählen, weil sie der schieren Unterhaltung dienen, hier und dort temporär verboten werden, als handele es sich um Pornographie oder ähnlich Peinliches, Demoralisierendes.
In seltsamem Kontrast zu dieser Geringschätzung in den Ländern ihres Ursprungs steht der Sieges-lauf, den die »1001 Nacht«-Erzählungen durch sämtliche europäischen Länder nahmen, nachdem der französische Orientalist Antoine Galland sie erstmals zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus dem Arabischen übersetzt hatte. Seitdem bezaubern sie junge und alte, gebildete und ungebildete Menschen in der ganzen Welt. Ja, die Begeisterung für dies Werk war im 18. und 19. Jahrhundert so groß, dass namhafte Literaten es mit Homers Epen und Shakespeares Dramen verglichen. Was den Einfluss von »1001 Nacht« auf die deutschsprachige Literatur betrifft, wären Wieland, Bürger, Klinger, E.T.A. Hoffmann, Rückert, Immermann, Hauff, Platen, Grillparzer, Chamisso zu nennen und vor allem Goethe, für den »1001 Nacht« in der Tat ein Lebensbuch war. Weiterhin Jean Paul, Lichtenberg, Musäus, Voss und A.W. Schlegel. Und fürs 20. Jahrhundert: George, Hofmannsthal, Beer-Hofmann, Rilke, Jünger, Hesse und Broch, um nur auf diejenigen zu verweisen, über deren produktive Auseinandersetzung mit »1001 Nacht« literaturwissenschaftliche Untersuchungen existieren.
Was die Dichter an »1001 Nacht« faszinierte, hat Hofmannsthal in seinem 1001-Nacht-Essay von 1906 zum Ausdruck gebracht: »In der Jugend unseres Herzens, in der Einsamkeit unserer Seele fanden wir uns in einer sehr großen Stadt, die geheimnisvoll und drohend und verlockend war, wie Bagdad und Basra wie glichen wir diesen weit von der Heimat verirrten Prinzen, diesen Kaufmannssöhnen, deren Vater gestorben ist und die sich den Verführungen des Lebens preisgeben, wie meinten wir ihnen zu gleichen!« Und: »Es ist über dieser Wirrnis von menschlichem, Tierischem und Dämonischem immer das strahlende Sonnenzelt ausgespannt oder der heilige Sternenhimmel. Und wie ein sanfter, reiner, großer Wind wehen die ewigen, einfachen, heiligen Gefühle, Gastlichkeit, Frömmigkeit, Liebestreue durch das Ganze hin.«
Ich gestehe, vor über einem halben Jahrhundert hat »1001 Nacht« mein Interesse und meine Sympathie für die arabische Welt geweckt, wobei die Gestalt der Scheherazade mich besonders faszinierte, weil hier eine Frau war, die ihrer Klugheit und Sprachgewalt vertraut und deren Redegabe es gelingt, den bis zum Wahnsinn grausamen Sultan durch »Gesprächstherapie« zu heilen und dadurch vielen Frauen das Leben zu retten. Da fragt man sich, wie denn Scheherazade in ihrer geistigen Überlegenheit mit der stereotyp behaupteten Geringschätzung der Frauen in der arabischen Welt zusammenstimmt? Oder wollten die Volkserzähler, die ja zugleich Erzieher waren, der Geringschätzung der Frauen auf ihre Art entgegenwirken?
Zweifellos lohnt sich die Lektüre von »1001 Nacht« auch noch im 21. Jahrhundert für östliche und westliche Leser. Wenn Kultur Austausch ist, dann gibt uns dieses Meisterwerk arabischer Erzählkunst ein Beispiel, was Weltliteratur vermag. Viele östliche Elemente haben unbemerkt unsere Fantasie infiltriert; sind in unser Denken, in unsere so genannte »westliche Zivilisation« eingedrungen, so dass in unserm Innern »Orient und Okzident« schon längst nicht mehr zu trennen sind. De facto leben wir längst in einer großen Mischkultur, ohne uns dessen eigentlich bewusst zu sein. Unsere Bildung beruht auf dem antiken Erbe der alten Griechen und Römer, die mit dem Germanentum unserer Vorfahren und der christlichen Tradition schon ganz früh eine Mischkultur erzeugten, aus der sich das moderne Denken entwickelte. Diejenigen, die auf die westliche Zivilisation pochen, bedenken oft zu wenig, wie viel östliche Elemente diese so genannte westliche Zivilisation schon allein durch die judeo-christliche Tradition in sich aufgenommen hat.
Auch lässt man für gewöhnlich ein anderes wichtiges Faktum beiseite, dass nämlich schon zu Zeiten Alexanders des Großen, dem es gelang, Orient und Okzident zu vereinen, die Kulturwelt des vorderen Orients mit dem Abendland verbunden wurde und dass die seit Alexanders Zeiten bestehende mittelmeerische Kulturgemeinschaft Jahrhunderte andauerte, bis sie um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends gespalten wurde. Diese Spaltung führten Glaubensfanatiker und Machtbesessene in Ost und West herbei, denen an Trennung und feindseligen Auseinandersetzungen gelegen war und die darum ihren Anhängern und Landsleuten die Unvereinbarkeit von Orient und Okzident predigten.
Doch, wie gesagt, je größer die Autoren sind, desto größer ist auch ihre innere Spannkraft, sich den Feindseligkeiten der Völker und Religionen entgegenzusetzen. Wer Kultur besitzt, verfügt auch über die innere Stärke zur Aufnahme und Verarbeitung dessen, was andere Kulturen zu bieten haben und scheut sich nicht vor der Begegnung mit ihnen. Wie es Goethe in seiner Menschheitstragödie »Faust« schrieb: »Wer sich selbst und andere kennt / Wird auch hier erkennen/ Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.«

Wieder- und Neuentdeckung zugleich: Mit 30 farbigen Illustrationen des Jugendstilkünstlers Edmund Dulac (1882-1953) erschien jetzt der Band »Arabische Nächte. Erzählungen aus Tausend und Eine Nacht«, den Ernst-Ludwig Schellenberg erstmals 1914 herausgegeben hat. In rote Seide gebunden, eine besonders schöne Ausgabe (Rütten & Loening, 255 Seiten, 16 Euro)Es ist stets ein Zeichen gesunder Selbstsicherheit, wenn ein schöpferisches Individuum sich nicht vor der Verbindung mit dem Andersartigen scheut, sondern sich freudig mit ihm auseinander setzt und auch dankbar annimmt, was der andere zu geben hat und was ihm selber fehlt.
Das gleiche gilt für Völker und Zivilisationen, deren Selbstsicherheit sich ebenso in der Bereitschaft zur Aufgeschlossenheit anderen Kulturen gegenüber spiegelt. So war es ein Zeichen von Selbstgewissheit und eigenem kulturellen Hochstand, dass die alten Griechen »das beweglichste und mischlustigste antike Volk« waren. Demgegenüber ist die Tendenz mancher Regierungen und Völker, sich in Besorgnis um die Reinerhaltung der eigenen Art ängstlich von anderen Zivilisationen abzuschließen, ein bedenkliches Zeichen der Schwäche und kulturellen Niedergangs.
Warum so viele Leser im Westen gar nicht wissen, welchen großen Beitrag die arabische Dichtkunst zur Weltliteratur geleistet hat - wirft man diese Frage in Gesellschaft auf, so wird oft argumentiert: Das läge an der ungeheuren Masse des aus allen Kulturen der Welt Überkommenen, die selbst von einem bildungshungrigen Mitteleuropäer nicht mehr zu bewältigen sei. Zugegeben, und doch ist zu fragen, warum sich die deutsche Leserschaft eher dem Fernsten Osten oder dem historisch weit zurückliegenden Hellas als der geographisch und zeitlich näheren arabischen Welt öffnet. Ein Beispiel: Jeder einigermaßen Belesene weiß, dass zur Ausbildung der traditionellen Geishas in Japan Poesie, Kalligraphie und Musik gehörten. Ebenso weiß man, dass auch die Hetären im alten Griechenland musisch höchst gebildet waren. Wer aber weiß, dass eine große Gruppe islamischer Dichterinnen aus hochgebildeten, auch in Musik und Kalligraphie geschulten Singsklavinnen bestand, die an Höfen und in Palästen des islamischen Orients lebten?! Ihr Lebenszuschnitt war dem der Geishas und der Hetären sehr ähnlich. Ich gestehe selber, erst durch Annemarie Schimmels neuestes Buch über die »Gedichte von Frauen aus der arabischen Welt« davon erfahren zu haben.
Die Uninformiertheit des europäischen Lesepublikums auf dem Gebiet der arabischen Literatur hat Parallelen im Bereich der bildenden Künste; von allen Künsten weiß man im Westen über die islamische Kunst am allerwenigsten. Erst der Schreck über den Politislam löste bei vielen Lesern das Bedürfnis aus, sich über die muslimische Religion genauer zu orientieren. Infolgedessen tauchte auf dem Buchmarkt eine nie gekannte Fülle von Büchern über den Islam auf; dieser Welle schloss sich eine bis dahin nie gesehene Fülle von Bildbänden über islamische Kunst an - eine sehr begrüßenswerte »Nebenwirkung« erschreckender politischer Entwicklungen.
Zu diesen positiven »Nebenwirkungen« gehört auch, dass die europäische Öffentlichkeit von arabischen Dichtern Notiz nimmt, seit - wiederum aus bedauerlichen politischen Gründen - so hervorragende Repräsentanten der zeitgenössischen arabischen Poesie wie der syrisch-libanesische Dichter Adonis, der Palästinenser Mahmoud Darwish, der Syrer Fuad Rifka und viele andere mehr in Europa leben. Das betrifft auch arabische Dichterinnen, wie etwa die in Bagdad geborene Irakerin Amal Al-Djuburi, die während ihres politischen Exils in Berlin eine Zeitschrift für arabische und deutsche Poesie, »Diwan«, herauszugeben begann und nun in Bagdad ein deutsch-arabisches Kulturinstitut aufbaut.
Immerhin ist zu bedenken, dass die arabische Sprachgemeinschaft zweihundert Millionen Menschen umfasst, deren religiöses Medium die Sprache des Qur'an ist und die auch die vor über tausend Jahren geschriebenen Verse der klassischen arabischen Dichtung lesen und genießen können.
Wir, denen die Weltliteratur viel bedeutet, sollten uns ungescheut zu unserer kulturellen Dankesschuld gegenüber den Arabern bekennen. Denn es ist ja eigentlich kein Geheimnis, dass die deutschsprachige Literatur der arabischen viel zu verdanken hat, seit es in den frühen Jahrhunderten des Islam durch das Vordringen der Araber in den Südwesten und Südosten Europas und durch die europäischen Kreuzzüge in Richtung Jerusalem zu feindseligen Berührungen kam. Nicht zufällig kam erst seit den Kreuzzügen ein märchenhaftes Erzählen mit spürbarer Freude am Fabelhaften und Wunderbaren auf, nicht zufällig wimmelte es plötzlich in der Spielmannsepik von Anklängen an Stoffe, Märchenmotive und erzählerische Mittel, wie sie sich in frühen arabischen »1001 Nacht«-Handschriften finden, die ihrerseits vielfach auf indischen und persischen Motiven beruhten, denn dieses große Sammelwerk ist ja bereits ein Mischprodukt verschiedener Völker und Kulturen.
Das so genannte »christliche Abendland« hat sich seit Jahrhunderten dagegen gesträubt, solche Einflüsse zur Kenntnis zu nehmen. Viele im christlichen Denken verankerte Europäer reagierten höchst irritiert, als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts der katholische Priester und Professor für Arabistik an der Universität Madrid, Miguel Asín y Palacios nachwies, dass die Theologie des Hl. Thomas von Aquino stark beeinflusst war durch den 1126 in Córdoba geborenen arabischen Philosophen Averrhoës. Noch mehr schockierte Asín Palacios, als er nach 25-jähriger Auseinandersetzung mit den Quellen zu Dantes »Göttlicher Komödie« 1919 in seinem Buch »La Escatología musulmana en la Divina Comedia« unzählige Beweise dafür erbringen konnte, dass Dante viel Sympathie für die arabische Kultur und sehr genaue Kenntnisse der Geschichte des Islam besaß. Der Schock schlug sich in Hunderten von Publikationen nieder, von denen viele pamphletartigen Charakter trugen, denn bis dahin hatte es keinerlei Zweifel gegeben, dass die »Divina comedia« gewissermaßen die gesamte Kultur des christlichen mittelalterlichen Europa symbolisierte. Über ein halbes Jahrhundert verstrich, ehe Asíns Buch überhaupt ins Italienische übersetzt wurde; man wehrte sich eben gegen die Vorstellung, dass das berühmteste Meisterwerk italienischer Dichtkunst arabischen Modellen so viel zu verdanken haben sollte.
Dantes »Comedia« ist ein Beispiel dafür, dass die Giganten der Weltliteratur sich nicht durch religiös-dogmatische Restriktionen ihrer Zeit oder national-patriotische Gesinnungen ihrer Landsleute einengen lassen. Das zeigen schon Homers Epen, in denen die Gegner der Griechen mit Hochachtung behandelt werden. Das gleiche Über-den-Parteien-Stehen zeichnet auch die großen Tragödiendichter Aischylos und Euripides aus. Ein anderes hervorragendes Beispiel solcher Souveränität bietet Calderón, der zwar als katholischer Geistlicher und Hofdichter in Madrid an religiöse und vaterländische Konventionen gebunden war, aber dennoch in seinen Werken den islamischen Gegnern seines Vaterlandes und seiner Kirche hohe Achtung erwies. Diese Noblesse bewunderte schon Goethe. Es ist der Freisinn, um den Goetheschen Ausdruck zu gebrauchen, der die allergrößten Dichter auszeichnet, das über den Parteien, über den weltlichen Händeln, über allen geistigen und geistlichen Einschränkungen Stehen. Hierdurch wiederum üben ihre Werke befreiende Wirkungen auf empfängliche Leser aus.
Auch die arabische Literatur hat solche bedeutenden Dichter hervor-gebracht. Man denke an den großen Al-Mutanabbi, auf den Goethe schon als Student in Leipzig aufmerksam wurde, als Johann Jacob Reiske, der hervorragendste Arabist seiner Zeit, gerade eine Auswahl von Gedichten Mutanabbis übersetzt und herausgegeben hatte.
Fragt man heutige deutsche Leser, welche Werke der arabischen Literatur sie kennen, so fällt ihnen als erstes »1001 Nacht« ein. Noch jeder hat die eine oder andere Lieblingsgestalt oder Lieblingsgeschichte im Gedächtnis. Das Merkwürdige ist nun aber, dass diese Erzählungen in den arabischen Ländern nicht eigentlich zur »Literatur« zählen, weil sie der schieren Unterhaltung dienen, hier und dort temporär verboten werden, als handele es sich um Pornographie oder ähnlich Peinliches, Demoralisierendes.
In seltsamem Kontrast zu dieser Geringschätzung in den Ländern ihres Ursprungs steht der Sieges-lauf, den die »1001 Nacht«-Erzählungen durch sämtliche europäischen Länder nahmen, nachdem der französische Orientalist Antoine Galland sie erstmals zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus dem Arabischen übersetzt hatte. Seitdem bezaubern sie junge und alte, gebildete und ungebildete Menschen in der ganzen Welt. Ja, die Begeisterung für dies Werk war im 18. und 19. Jahrhundert so groß, dass namhafte Literaten es mit Homers Epen und Shakespeares Dramen verglichen. Was den Einfluss von »1001 Nacht« auf die deutschsprachige Literatur betrifft, wären Wieland, Bürger, Klinger, E.T.A. Hoffmann, Rückert, Immermann, Hauff, Platen, Grillparzer, Chamisso zu nennen und vor allem Goethe, für den »1001 Nacht« in der Tat ein Lebensbuch war. Weiterhin Jean Paul, Lichtenberg, Musäus, Voss und A.W. Schlegel. Und fürs 20. Jahrhundert: George, Hofmannsthal, Beer-Hofmann, Rilke, Jünger, Hesse und Broch, um nur auf diejenigen zu verweisen, über deren produktive Auseinandersetzung mit »1001 Nacht« literaturwissenschaftliche Untersuchungen existieren.
Was die Dichter an »1001 Nacht« faszinierte, hat Hofmannsthal in seinem 1001-Nacht-Essay von 1906 zum Ausdruck gebracht: »In der Jugend unseres Herzens, in der Einsamkeit unserer Seele fanden wir uns in einer sehr großen Stadt, die geheimnisvoll und drohend und verlockend war, wie Bagdad und Basra wie glichen wir diesen weit von der Heimat verirrten Prinzen, diesen Kaufmannssöhnen, deren Vater gestorben ist und die sich den Verführungen des Lebens preisgeben, wie meinten wir ihnen zu gleichen!« Und: »Es ist über dieser Wirrnis von menschlichem, Tierischem und Dämonischem immer das strahlende Sonnenzelt ausgespannt oder der heilige Sternenhimmel. Und wie ein sanfter, reiner, großer Wind wehen die ewigen, einfachen, heiligen Gefühle, Gastlichkeit, Frömmigkeit, Liebestreue durch das Ganze hin.«
Ich gestehe, vor über einem halben Jahrhundert hat »1001 Nacht« mein Interesse und meine Sympathie für die arabische Welt geweckt, wobei die Gestalt der Scheherazade mich besonders faszinierte, weil hier eine Frau war, die ihrer Klugheit und Sprachgewalt vertraut und deren Redegabe es gelingt, den bis zum Wahnsinn grausamen Sultan durch »Gesprächstherapie« zu heilen und dadurch vielen Frauen das Leben zu retten. Da fragt man sich, wie denn Scheherazade in ihrer geistigen Überlegenheit mit der stereotyp behaupteten Geringschätzung der Frauen in der arabischen Welt zusammenstimmt? Oder wollten die Volkserzähler, die ja zugleich Erzieher waren, der Geringschätzung der Frauen auf ihre Art entgegenwirken?
Zweifellos lohnt sich die Lektüre von »1001 Nacht« auch noch im 21. Jahrhundert für östliche und westliche Leser. Wenn Kultur Austausch ist, dann gibt uns dieses Meisterwerk arabischer Erzählkunst ein Beispiel, was Weltliteratur vermag. Viele östliche Elemente haben unbemerkt unsere Fantasie infiltriert; sind in unser Denken, in unsere so genannte »westliche Zivilisation« eingedrungen, so dass in unserm Innern »Orient und Okzident« schon längst nicht mehr zu trennen sind. De facto leben wir längst in einer großen Mischkultur, ohne uns dessen eigentlich bewusst zu sein. Unsere Bildung beruht auf dem antiken Erbe der alten Griechen und Römer, die mit dem Germanentum unserer Vorfahren und der christlichen Tradition schon ganz früh eine Mischkultur erzeugten, aus der sich das moderne Denken entwickelte. Diejenigen, die auf die westliche Zivilisation pochen, bedenken oft zu wenig, wie viel östliche Elemente diese so genannte westliche Zivilisation schon allein durch die judeo-christliche Tradition in sich aufgenommen hat.
Auch lässt man für gewöhnlich ein anderes wichtiges Faktum beiseite, dass nämlich schon zu Zeiten Alexanders des Großen, dem es gelang, Orient und Okzident zu vereinen, die Kulturwelt des vorderen Orients mit dem Abendland verbunden wurde und dass die seit Alexanders Zeiten bestehende mittelmeerische Kulturgemeinschaft Jahrhunderte andauerte, bis sie um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends gespalten wurde. Diese Spaltung führten Glaubensfanatiker und Machtbesessene in Ost und West herbei, denen an Trennung und feindseligen Auseinandersetzungen gelegen war und die darum ihren Anhängern und Landsleuten die Unvereinbarkeit von Orient und Okzident predigten.
Doch, wie gesagt, je größer die Autoren sind, desto größer ist auch ihre innere Spannkraft, sich den Feindseligkeiten der Völker und Religionen entgegenzusetzen. Wer Kultur besitzt, verfügt auch über die innere Stärke zur Aufnahme und Verarbeitung dessen, was andere Kulturen zu bieten haben und scheut sich nicht vor der Begegnung mit ihnen. Wie es Goethe in seiner Menschheitstragödie »Faust« schrieb: »Wer sich selbst und andere kennt / Wird auch hier erkennen/ Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.«

Wieder- und Neuentdeckung zugleich: Mit 30 farbigen Illustrationen des Jugendstilkünstlers Edmund Dulac (1882-1953) erschien jetzt der Band »Arabische Nächte. Erzählungen aus Tausend und Eine Nacht«, den Ernst-Ludwig Schellenberg erstmals 1914 herausgegeben hat. In rote Seide gebunden, eine besonders schöne Ausgabe (Rütten & Loening, 255 Seiten, 16 Euro)

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