Mehr als ein Renegat
Vor 150 Jahren wurde Karl Kautsky geboren
Viel mehr als das Stigma des Renegaten, das ihm Lenin eingebrannt hatte, war den meisten in der DDR nicht bekannt über Karl Kautsky, obgleich eine seiner Schriften, »Das Erfurter Programm«, noch 1965 im Dietz-Verlag eine Neuauflage erfahren hatte. Karl Kautsky, am 16. Oktober 1854 in Prag geboren und am 17. Oktober 1938 im Amsterdamer Exil gestorben, war gewiß einer der umstrittensten sozialdemokratischen Theoretiker. Heute ist er, nach einer sehr kurzen Renaissance im Gefolge der Auflösung des Sowjetblocks, wieder an den Rand der Debatten gedrängt.
Kautsky, als Sohn eines Theaterdekorateurs und einer Schriftstellerin zweisprachig in Prag, Wien und als Gymnasiast im Benediktinerkloster Melk aufgewachsen, studierte kurz Geschichte, Jura und Nationalökonomie an der Universität Wien. Er beendete sein Studium jedoch ohne Abschluss - die akademische Ochsentour war ihm ebenso fremd wie die Vorstellung einer Anwaltstätigkeit - und ging als Mitarbeiter des Sozialreformers Karl Höchberg nach Zürich. Seit 1880 schrieb er für sozialdemokratische Blätter. 1882 übersiedelte er nach Berlin. Er wurde einer der produktivsten politischen Schriftsteller seiner Zeit: Nicht weniger als 1700 Publikationen, darunter über zwei Dutzend größere Bücher, zählt sein Werk.
Von 1883 bis 1917 war Kautsky Chefredakteur der Neuen Zeit, des damals wichtigsten theoretischen Organs des deutschen und europäischen Sozialismus. Er wandte sich gegen den Revisionismus Eduard Bernsteins, der das marxistische Klassenkampfschema als unzeitgemäß für die sozialistische Politik im 20. Jahrhundert ablehnte (»Bernstein und das sozialdemokratische Programm«, 1899). Kautsky griff jedoch auch die marxistische Linke um Rosa Luxemburg, August Thalheimer und Franz Mehring an, deren Erwartung auf eine nahe bevorstehende sozialistische Revolution er nicht teilte (»Der politische Massenstreik«, 1914). Die Bedingungen für den Sozialismus würden »naturnotwendig« im Hochkapitalismus heranreifen; die Machtübernahme durch das Proletariat stünde am Ende eines langen Entwicklungsprozesses, bei dem sich der Kapitalismus auf Grund seiner Widersprüche gewissermaßen von selbst auflösen würde.
Kautskys Geschichtssicht blieb nicht ohne Wirkung, verbreitete sie doch Zuversicht im Hinblick auf den letztlichen Erfolg der Arbeiterbewegung. Diese Auffassung durchzog wie ein roter Faden seine Bücher. Außer den bereits genannten seien angeführt: »Die Vorläufer des neueren Sozialismus« (1895), »Die Agrarfrage« (1899), »Die soziale Revolution« (1902), »Sozialismus und Kolonialpolitik« (1907), »Nationalität und Internationalität« (1908), »Der Weg zur Macht« (1909), »Rasse und Judentum« (1914). Kautsky wandte sich gegen eine so genannte »sozialistische Kolonialpolitik«, die den Kolonialismus bagatellisierte, und unterstützte den nationalen Emanzipationskampf der Juden in Osteuropa, hielt indes das Palästina-Projekt des Zionismus für unrealistisch.
Im Ersten Weltkrieg unterstützte Kautsky zunächst, wenngleich nicht bedingungslos, die Position des SPD-Parteivorstandes, der sich für die »Vaterlandsverteidigung« ausgesprochen hatte. Schließlich wurde Kautsky zum Kriegsgegner und war 1917 Mitbegründer der USPD. 1922 kehrte er zur SPD zurück.
Kautsky war ein Gegner der Oktoberrevolution, die er für verfrüht hielt. Das bolschewistische Experiment, weit davon entfernt, die Probleme Russlands zu lösen, könne sich nur als terroristische Diktatur halten. Der Bolschewismus diskreditiere den Sozialismus. Lenin und Trotzki hielten dem entgegen, dass die Alternative zur Sowjetmacht keine parlamentarisch-sozialistische Republik sei, wie sie Kautsky vorschwebte, sondern der blutige Triumph der Konterrevolution. In einer Reihe von Büchern griff Kautsky das Sowjetregime scharf an: »Terrorismus und Kommunismus«, 1919; »Von der Demokratie zur Staatssklaverei«, 1921; »Der Bolschewismus in der Sackgasse«, 1930. Er sah als Ergebnis der Oktoberrevolution einen Rückfall Russlands hinter den Kapitalismus.
In der Zeit der deutschen Novemberrevolution Staatssekretär im Auswärtigen Amt, veröffentlichte Kautsky 1919 die erste Dokumentation über den Kriegsbeginn, die den Kriegskurs der deutschen Militärs und Diplomaten offen legte. In den Jahren 1920 und 1921 war er zeitweilig Berater der von den Menschewiki geführten Regierung der Republik Georgien, die mit dem Einmarsch der Roten Armee nach dem Bürgerkrieg ihre zeitweilige Selbstständigkeit verlor.
Seit 1924 lebte Kautsky wieder in Wien und veröffentlichte 1927 sein theoretisches Hauptwerk über »Die materialistische Geschichtsauffassung«. Darin wiederholte er seine strikt deterministische Interpretation der Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus. Kautsky sah früh die Gefahr des Faschismus, lehnte eine Einheitsfront mit den Kommunisten jedoch ab.
Der deutsche Einmarsch in Österreich machte Kautsky zum Flüchtling. Holländische Genossen nahmen ihn auf. Seine Frau Luise, die jüdischer Herkunft war, wurde aus Amsterdam nach Auschwitz deportiert und dort als Achtzigjährige 1944 ermordet. Kautskys Sohn Benedikt überlebte das Konzentrationslager Buchenwald, s...
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