Gliwice, früher Gleiwitz

Julian Kornhausers Erzählung »Zuhause, Traum und Kinderspiele«

  • Wolfgang Bittner
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.
Julian Kornhauser wurde 1946, also kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Gliwice geboren, seine frühesten Erinnerungen fangen Anfang der 50er Jahre an. Zu der Zeit war die Stadt, die vorher Gleiwitz hieß, bereits polnisch. Das Interessante an diesem Buch ist, wie differenziert, wie subtil die Atmosphäre im polnischen Oberschlesien eingefangen ist, und zwar in einer polnisch-schlesisch-deutschen Umgebung, die stark von Vertriebenen aus Lemberg geprägt war. Lemberg, in der Ukraine gelegen und bis 1918 österreichisch, war zum großen Teil von Polen bewohnt, die 1945 nach Westen, in die ehemals deutschen Ostgebiete »umgesiedelt« wurden, wie es beschönigend heißt. Natürlich trauerten die Erwachsenen um ihre frühere Heimat in der Ukraine, und viele dieser »Umsiedler« hatten Mühe, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen, zumal ihnen auf Schritt und Tritt die einerseits negativ belastete, andererseits tragische deutsche Vergangenheit begegnete: Auf der Straße, in den Betrieben, in den Häusern und Gärten, sogar in der eigenen Wohnung, die zuvor Deutschen gehört hatte. Die meisten Deutschen waren 1945 ebenfalls »umgesiedelt« worden, wie man lange Zeit in Polen sagte. In Wahrheit - und das wird mittlerweile auch in Polen so gesehen - waren sie unter schwierigsten Bedingungen vertrieben worden. Doch davon wusste der junge J., wie Julian Kornhauser seinen autobiografisch angelegten Protagonisten nennt, nichts oder nur sehr wenig. Er fing sozusagen von vorn an: Ein naives, unbekümmertes Leben in den Straßen, Gärten und Einrichtungen von Gliwice, seiner Heimatstadt. Diese Sichtweise ist für deutsche Heimatvertriebene frappierend, zeigt sie doch wie Recht die Befürworter der Oder-Neiße-Grenze als endgültiger deutscher Ost- und polnischer Westgrenze schon in den 70er Jahren hatten. Denn in Schlesien, Ostpreußen, Pommern und Ostbrandenburg wuchs zu der Zeit bereits eine neue polnische Generation heran, zum Teil schon eine zweite. Insofern ist Julian Kornhauser ein kompetenter Zeitzeuge der Verhältnisse im polnisch gewordenen Nachkriegsoberschlesien. Und diese Zeitzeugenschaft bewältigt er in seinem Buch, das zugleich eine Entwicklung beschreibt, mit erstaunlichem schriftstellerischen Können. Hinzu kommt, dass der Vater als Jude ein Überlebender des Konzentrationslagers Dachau war und sich einer neu entstandenen jüdischen Gemeinschaft in Gliwice zugehörig fühlte. Dagegen war die jüdische Herkunft und Kultur für die folgende Generation schon nicht mehr identitätsstiftend, fast ein wenig märchenhaft museal. Die Mutter war Deutsche, aus Oberschlesien stammend, und prägte die Jugend des Protagonisten J., der in diesen Passagen der Erzählung wohl mit Kornhauser identisch ist, auf ihre Weise. Außerdem ist die Rede von einer deutsch-stämmigen Haushälterin, die Einfluss auf J.'s Entwicklung genommen hat. Obwohl die Angehörigen des Vaters von den Nazis ermordet wurden, gibt es bei Kornhauser keine pauschalen Schuldzuweisungen, keine Vorurteile, keine versteckten Animositäten - ein versöhnlicher Ansatz, nicht gerade selbstverständlich, dafür aber umso bedeutsamer. Denn nur so wird ein vernünftiges Zusammenleben im vereinten Europa möglich sein. Der Bezug stellt sich her zu einem weiteren renommierten polnischen Schriftsteller, der in Gliwice aufgewachsen ist, wohin er als Kleinkind aus Lemberg kam: Adam Zagajewski, Jahrgang 1945. Auch bei ihm finden wir diesen humanen Grundton. Doch während Zagajewski in seinem umfangreichen Essay »Zwei Städte« immer wieder von der in den Augen der einstigen Lemberger »hässlichen Stadt« Gliwice schreibt, berichtet Kornhauser völlig unbefangen über seine Heimat. Das ist das überaus Spannende, vor allem wenn man seine Erinnerungen mit denen beispielsweise von Horst Bienek vergleicht, der noch im Vorkriegs-Gleiwitz aufgewachsen ist. Bienek hat die Stadt ganz anders kennen gelernt und beschrieben, unter anderem in seinem Roman »Die erste Polka«. Hier stoßen also in einer Stadt mehrere Welten zusammen. Die Autoren geben Einblick in die jeweils von ihnen wahrgenommene Epoche, wodurch sich das Mosaik einer mehrere Jahrzehnte währenden Übergangszeit zusammensetzt. Das ist bemerkenswert, für diese Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsperio...

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