Vor 50 Jahren begann in Algerien der bewaffnete Befreiungskampf
Klaus Polkehn
Lesedauer: 6 Min.
»Die vollständigste Ruhe herrscht in der gesamten Bevölkerung.« Das ließ Francois Mitterand, als französischer Innenminister für die Verwaltung der nordafrikanischen Departements Algier, Oran und Constantine zuständig, am Mittag des 1. November 1954 amtlich verlautbaren. Er irrte. Es gab bereits keine »vollständige Ruhe« mehr. Vier Tage später erklärte der Minister vor der Nationalversammlung in Paris: »Die einzige Verhandlung ist der Krieg!« Der Krieg war längst entbrannt.
In der Nacht zum 1. November 1954 hatte eine kleine Gruppe von Algeriern mit plötzlichen Überfällen einen Befreiungskampf eröffnet, der nach siebeneinhalb Jahren dem Land die Unabhängigkeit bringen sollte. Am Morgen dieses Tages waren Flugblätter in Algerien aufgetaucht, eine Proklamation an das algerische Volk. Nur eine Forderung: Unabhängigkeit. Es war die Geburtsstunde der Nationalen Befreiungsfront, der FLN, und der ALN, der Nationalen Befreiungsarmee. Die wenigen Entschlossenen waren enttäuschte Mitglieder einer antikolonialen Partei, der MTLD, deren Führung sich von ihrem ursprünglich radikalen Programm entfernt hatte. Nach wenigen Monaten strikt geheim gehaltener Vorbereitungen trafen sie sich in einer Garage in der Innenstadt von Algier und beschlossen den Aufstand. Es war ein riskantes Wagnis, der übermächtigen Kolonialmacht entgegenzutreten. Aber die Situation war reif, ein großer Teil des Volkes bereit. So entstand innerhalb von nicht einmal zwei Jahren eine sehr breite und zugleich heterogene Bewegung, der sich fast alle politischen Kräfte Algeriens anschlossen. Der Kampf gewann neue Dimensionen.
Der Maquis, die Guerilla in den Bergen, war das eine, sie stieg hinab ins Land. Die Massendemonstrationen in den Städten wurden nicht minder wichtig. Schließlich trug man den Kampf auch in das »Mutterland«. Die algerische »Diaspora« - in Frankreich lebten zehntausende Algerier, meist als billige Arbeitskräfte - eroberte für Tage die Straßen von Paris.
Der algerische Befreiungskampf, der sich national definierte, in dem sich sowohl sozialrevolutionäre wie auch kleinbürgerliche, nationalistische und religiöse Kräfte zusammenfanden, war nicht denkbar ohne beständige Wechselwirkungen mit internationalen Entwicklungen. Mit dem Schlag vom 1. November 1954 gewann der Kampf der »Dritten Welt« einen neuen prägenden Schauplatz. Die ersten Akteure in Algier waren stark vom Vorbild Vietnams geprägt - im April 1954 hatte die französische Kolonialmacht in Dien Bien Phu eine verheerende Niederlage erlitten, im Juli war in Genf ein Waffenstillstand unterzeichnet worden, der in die Unabhängigkeit (Nord)Vietnams mündete.
Und weiter: In Ägypten war im April 1954 Gamal Abdel Nasser Regierungschef geworden, im Frühherbst 1954 räumten die Engländer die Suezkanal-Zone. In Marokko hatten 1953 antikoloniale Kämpfe begonnen. Im Juli 1954 musste Frankreich der Unabhängigkeitsbewegung Tunesiens innere Autonomie zugestehen. Das war das günstige Umfeld für die Algerier. Dabei gab es gravierende Unterschiede zu anderen Drittweltgebieten. In Algerien lebten neben zehn Millionen Algeriern eine Million Algerienfranzosen (wegen ihrer Stiefel von den barfüßigen Landeskindern »pieds noirs«, »Schwarzfüße« genannt), Großgrundbesitzer, Bauern, aber auch Arbeiter. Algerien galt nicht als Kolonie, sondern als Teil des französischen »Mutterlandes«. Das erklärt den besonders hartnäckigen Widerstand der Kolonialherren, und nicht nur den von ihnen. Insgesamt setzte Frankreich 825000 Bewaffnete gegen die FLN/ ALN ein.
Vieles am algerischen Befreiungskampf kann uns heute recht aktuell erscheinen. Vor 50 Jahren begann man in offiziellen Erklärungen und in den Medien die Aktionen von FLN und ALN kurzerhand als »Terror« zu bezeichnen. In der Tat gab es »Terrorismus«, jene unschöne Waffe der Ohnmächtigen. Man erinnere sich an die Bombenanschläge in den Cafés in Algiers Hauptstraßen, ausgeführt von jungen Frauen wie Djamila Bouhired und Djamila Boupacha. Es gab die nächtlichen Überfälle auf die Höfe französischer Colons in der fruchtbaren Mitidja-Ebene.
Und es gab den Staatsterror der Kolonialmacht, Zehntausende in Konzentrationslagern, Luftwaffeneinsätze mit Napalmbomben gegen Bergdörfer und schließlich die Folter. Das Foltern willkürlich Festgenommener, la gangrène, das Krebsgeschwür, wie es das fortschrittliche Frankreich anklagte, wurde Routine. Die in Algier erprobten Foltermethoden exportierte man dann unter anderem nach Südamerika - die Folterknechte der Militärdiktaturen in Chile und Argentinien wurden von französischen Ausbildern geschult. Diese Seite des »schmutzigen Krieges« ist in Frankreich bis zum heutigen Tag nie richtig aufgearbeitet worden. In Algerien formierten sich Terrororganisationen von Siedlern, Armee- und Geheimdienstleuten, die »Geheimarmee« OAS und die berüchtigte »Rote Hand«.
Der algerische Befreiungskrieg forderte enorme Opfer. Schätzungsweise eine Million Algerier starben, davon allein hunderttausend als Kämpfer von ALN und FLN. Zwei Millionen Menschen wurden von der Kolonialverwaltung »umgesiedelt«, sprich: in Lager verschleppt. Eine halbe Million Algerier flohen in die Nachbarländer Marokko und Tunesien.
Das kämpfende Algerien vermochte den Krieg nicht zuletzt auch dank wachsender internationaler Solidarität durchzustehen. Solidarität zunächst vor allem von den frei werdenden ehemaligen französischen Kolonien und von der arabischen Welt natürlich. Marokko und Tunesien boten ein wichtiges Hinterland. Seit 1959 gab es ein enges Wechselverhältnis und gegenseitige Unterstützung mit der kubanischen Revolution - ALN-Kader wurden in Kuba ausgebildet. Nach anfänglichem Zögern wurde das kämpfende Algerien auch von den sozialistischen Staaten als Bundesgenosse unterstützt, wobei die DDR eine gewisse Vorreiterrolle übernahm. Zugleich erhoben sich französische Linke, die Kommunisten, viele Christen, eine großer Zahl Intellektueller zu einem Aufstand des Gewissens.
Später dann, als eine effektive Nationale Befreiungsarmee die Streitkräfte Frankreichs zwar nicht besiegte, aber doch zermürbte, da bildeten die Algerier Kämpfer aus Mocambique und Angola aus. Nicht zuletzt waren die Gründung von al-Fatah und der Palästina-Befreiungsorganisation (1964) vom Sieg Algeriens inspiriert. Die algerische Revolution verstand sich als Teil einer weltumspannenden Befreiungsbewegung.
Die Kolonialarmee wurde in jeder Hinsicht demoralisiert. Erst warf sie der IV. Republik Unfähigkeit und Nachgiebigkeit vor. Dann putschte sie im Mai 1958 Charles de Gaulle ins Präsidentenpalais. Schließlich unternahmen 1961 Generale einen neuen Putschversuch, weil de Gaulle sich als weitsichtig und klug erwies, weil er begriffen hatte, dass Algerien nicht zu halten war und weil er Verhandlungen einleitete. Der Putsch scheiterte, die Gespräche mit der FLN mündeten im März 1962 in das Abkommen von Evian und schließlich am 5. Juli 1962 in Algeriens Unabhängigkeit. 130 Jahre Kolonialherrschaft endeten.
In den Jubel auf Algiers Straßen mischten sich im Sommer 1962 Besorgnisse: Der Kampf um die Macht in dem jungen Staat begann nun in aller Schärfe. »Historische Führer« von 1954 fanden sich in bitter verfeindeten Lagern wieder. Zwischen überzeugten Sozialisten, tief religiösen Moslems und einem heranwachsenden autochthonen Bürgertum, die zunächst im Unabhängigkeitskrieg in einer Front gestanden hatten, taten sich nun unüberbrückbare Gräben (auch in aller Öffentlichkeit) auf. Das hat Algeriens Entwicklung seither tief geprägt. Zwar schien sich zu Beginn der Amtszeit von Ahmed Ben Bella (1962-1965) ein neuer revolutionärer Aufbruch zu vollziehen. Zwar suchte sich das Land unter dem Präsidenten Houari Boumedienne (1965-1978) zu konsolidieren. Aber klare Konzepte fehlten.
Aus dem Offizierskorps der ALN, das sich 1962 zumindest verbal zu einem sozialistischen Weg bekannt hatte, gingen Leute hervor, die sich diktatorisch das Land zu unterwerfen trachteten und von denen sich viele vor allem für die persönliche Bereicherung interessierten. Damit leisteten sie islamistischem Widerstand (und dann auch islamistischem Terrorismus) Vorschub. Algerien musste durch ein Jahrzehnt opferreicher bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse und wirtschaftlicher Stagnation.
Heute erhebt sich auf der Höhe über der algerischen Hauptstadt unübersehbar das Mahnmal der Märtyrer, ein in Beton gegossenes, riesiges Monument. Darunter und drum herum gibt es statt feierlicher Stille pulsierendes Leben, Handel und Wandel, laut umhertobende Kinder. Für die Heranwachsenden und Herangewachsenen ist das, was vor fünf Jahrzehnten geschah, offenbar ferne Geschichte, verdrängt von alltäglichen Sorgen.
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