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Von Hubert Zaremba

  • Lesedauer: 4 Min.

Die Produktion der gesellschaftlichen Wertschöpfung vollzieht sich zunehmend unter dem Zwang, aus der Arbeitsleistung einer tendenziell rückläufigen Erwerbsbevölkerung dennoch höhere Zuwachsraten zu erzielen. Hierin liegt der Ursprung aller privaten und öffentlichen Verarmung. Während Einkommen aus Kapitalanlagen eine privilegierte Progression einschlagen, sinken Löhne, soziale Transfers und das realinvestierte Ausgabevolumen der öffentlichen Hand. Seit 20 Jahren dramatisiert jeder ausgehende Konjunkturzyklus diese Lage auf neuer Stufe.

»Die Freisetzung von gesellschaftlichem Arbeitspotential durch den ökonomischen Prozeß wird unter den herrschenden Bedingungen bei der zur Zeit bestehenden Organisation des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens zum Problem.« Daß es Auswege aus starrsinnigen Blockaden gesellschaftlicher Entwicklung gibt, aus einem Zustand, der technologisch bedingte Arbeitsplatzvernichtung im neoliberalen Wortklang als zukünftigen Arbeitsplatzzuwachs zelebriert -gegen diese ökonomische Quacksalberei fordert Martin Kempe in seiner »ZukunftsArbeit« ein »neues Verständnis von Arbeitsgesellschaft und Sozialstaatlichkeit ... unter den heutigen Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland«.

Nach begründeter Meinung des Autors, der über langjährige journalistische Erfahrung im Konfliktfeld der Arbeitswelt und dem Organisationsleben der deutschen Gewerkschaften verfügt, reichen neu zu erschließende Betätigungsfelder in einem gemeinnützigen Sektor sozial* kultureller Dienste dazu allein nicht aus, Auch konsequenteres ökologisches Wirtschaften kann auf Dauer nicht mehr Beschäftigung herbeiführen.

Die weitere Arbeitszeitverkürzung aller Beschäftigten mit dem Ziel der Umverteilung des Arbeitsaufkommens auf das gesamte Beschäftigungspotential bleibt für Martin Kempe der »Königsweg« aus einer verfahrenen Situation. Aber eine neue Arbeitszeitpolitik in einer sozialen Demokratie muß für ihre Akzeptanz mehr bieten, nämlich »den Zugang aller Menschen zur Erwerbsarbeit und die Möglichkeit aller Menschen, sich über die Notwendigkeiten der Existenzsicherung hinaus frei zu entfalten«.

Weniger Arbeit für alle ist nicht unbedingt mit Lohneinbußen für alle zu erkaufen. Das durchschnittliche Lohnniveau der Lohnabhängigen liegt nicht so hoch, um ihnen weitere Kürzungen ihrer Kaufkraft zuzumuten. Echte Reformpolitik kann nur Unterstützung finden, wenn sie spürbare Verbesserungen der Le-

bensverhältnisse - hier Zeitgewinn ohne Einkommensverlust - verwirklicht.

Erfahrungen in Dänemark ermuntern zu einem allgemein praktikablen Weg, den Martin Kempe für übertragbar hält. Verzichten jeweils drei Beschäftigte auf ein Viertel ihrer Arbeitszeit, kann das die Einstellung einer vierten Arbeitskraft mit gleichem Status ermöglichen. Ob arbeitsorganisatorisch bedingt - Beschäftigte phasenweise der Arbeitsstelle fernbleiben oder zusätzliche Schichtregelungen einzuführen sind: Die generelle Arbeitszeitverkürzung erleichtert die Kreation neuer Arbeitszeitmodelle bis hin zur Aufwertung herkömmlicher Teilzeitarbeit. Anzustreben und vorstellbar ist eine ganzjährige Durchschnittsarbeitswoche von 28 Stunden, die sich in Blökken von höchstens acht Stunden am Tag und 40 die Woche bewegt.

Den Lohnausfall ersetzt eine staatliche Ausgleichszahlung, die - an Stelle der Lohnersatzleistungen für erzwungene Untätigkeit - diese Finanzmittel umwidmet, Spareffekte also allein schon über Beitragsrückflüsse erzielt. Statt dauerhaft die Arbeitslosigkeit einer wachsenden Minderheit zu finanzieren, werden alle Erwerbstätige befristet und finanziell abgesichert freigestellt. Die Beschäftigten erleben Zeitgewinn, die Betriebe entgehen zusätzlicher Abgabenbelastung, der Staat spart Sozialausgaben - nicht nur kurzfristig, er vermeidet auch langfristige Folgeausgaben.

Bisherige Profiteure, denen trotz aller Beteuerungen an einer Verknappung des Arbeitskräfteangebots gar nicht gelegen ist, werden mit dem Verweis auf zunehmende bürokratische Regulierungswut und zusätzlichen Betriebsaufwand entschieden abwinken. Ihnen kann Martin Kempe entgegenhalten: »Wer über kürzere Arbeitszeiten nicht reden will, sollte von der Überwindung der Arbeitslosigkeit schweigen.«

Dies äußert kein Umstürzler, aber ein evolutionär denkender sozialer Demokrat. Martin Kempe stellt nicht die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse einer kapitalistischen Ökonomie in Frage, will allerdings bornierte Alltagsverhältnisse aufbrechen, die Menschen in ihrer Lebensgestaltung einschränken und hemmen. Er verlangt Umverteilung von Arbeits- und Freizeiten innerhalb der lohnabhängigen Klasse, flankiert durch einen' andersartigen Einsatz staatlich verwalteter Anteile des gesellschaftlichen Bruttoprodukts. Das läuft auf ein neues Verständnis von Arbeitsförderung hinaus, erfordert andere Formen der Arbeitsmarktpolitik im Hinblick auf eine modernisierte Erwerbsarbeit.

Martin Kempe konzipierte sein Buch aus konkreten Problemen in Ost und West. Ihm gelingt es, unterschiedliche Ausgangslagen zu »vereinigen«. Seine Gedankenfülle, Materialdichte und Refomideen stehen in lebendigem Kontrast zu den defensiven Anpassungsmanövern gewerkschaftlicher Politik. Nur muß zu neuen Konzepten politischer Durchsetzungswille treten. Eine breitere Beachtung der Ende 1995 erschienenen »ZukunftsArbeit« kann uns helfen, eine Wende gegen Sklerose und sozialen Zerfall der bundesdeutschen Gesellschaft einzuleiten.

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