Juden aus Ost und West treffen sich

Kolloquium zwei Tage nach Öffnung der Mauer im Klub der Kulturschaffenden

Mit unserer Serie gehen wir bis zum Jahresende auf Zeitreise in den Alltag von 1989. Kleine wie große Ereignisse in der damals noch geteilten Stadt spielen eine Rolle. An die Atmosphäre im Wendejahr wollen wir erinnern und an Courage. Verschwundene Orte tauchen wieder auf. Von anderen wird erzählt, die erst 1989 entstanden. Auch Zeitzeugen kommen zu Wort. So soll sich übers Jahr ein Porträt unserer Stadt über die spannende Zeit vor 15 Jahren fügen.

11. November 1989. Ein Menschenstrom wälzte sich zum Checkpoint Charlie. Der Grenzübergang, lange nur spärlich geöffnetes Ventil, machte seinem Namen als Übergang seit gut 30 Stunden alle Ehre. Andreas Poetke war in dieser Menschenmenge. Doch er wendete sich gegen den Strom. Vom U-Bahnhof Stadtmitte strebte er gen Osten, zum Klub der Kulturschaffenden in der Otto-Nuschke-Straße (heute Jägerstraße). Sein Ziel: das Kolloquium »Zwei deutsche Staaten und die Juden«, das im Rahmen der Jüdischen Gemeinde von der Gruppe »Wir für uns - Juden für Juden«, in der er sich engagierte, organisiert worden war. Die Gruppe gründete sich Mitte der 80er Jahre auf Betreiben von Irene Runge, damals im Gemeindevorstand aktiv. »Leute wie ich wollten Judentum erleben«, erklärt Runge. »Unsere Eltern waren meist jüdische Kommunisten und Sozialisten, die im Widerstand gegen die Nazis gestanden und später die DDR mit aufgebaut hatten. Über ihr und unser Jüdischsein hatten sie mit uns kaum gesprochen. Uns ging es anfangs darum, uns stärker mit der jüdischen Geschichte, also dem unbekannten Teil der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Später wollten wir uns mehr die jüdische Religion als Kultur aneignen. Dazu haben wir echte Experten - orthodoxe Rabbiner aus Israel und den USA - eingeladen.« Die Gründer hatten jüdische Menschen wie sich im Sinn, und andere, die am Judentum interessiert waren, selbst wenn sie nur einen jüdischen Vater und keine jüdische Mutter hatten. Nach jüdischem Gesetz sind nur Kinder jüdischer Mütter bzw. zum Judentum Konvertierte Juden. Das November-Kolloquium sollte eine Tradition begründen. 1988 hatten sich bereits politisch interessierte jüdische Intellektuelle aus dem deutschsprachigen Raum in Ostberlin getroffen, um über den Novemberpogrom 1938 und historische Lehren in Ost und West zu diskutieren. Man wollte sich lernend und auch unterhaltsam begegnen. 1989 war das zweite Treffen geplant. Voraus ging am Nachmittag des 9. November die Gedenkfeier für die Opfer des Pogroms. Bei der Kranzniederlegung vor der Baustelle der Synagoge in der Oranienburger Straße hatte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde (Ost), Peter Kirchner, gefordert, das Aufdecken, Ergründen und Bekämpfen jeglicher neofaschistischer, rassistischer und antisemitischer Entwicklungen nicht zu vernachlässigen. Er forderte zudem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Staat Israel. Am 11. November nun waren die Veranstalter des Kolloquiums neugierig, wer kommen würde. Der Mauerfall hatte sich für einige als Schock erwiesen. Mancher sah das Land im nationalen Taumel. Stieß ihr Thema da noch auf Interesse? Die Befürchtungen zerstoben. »Der große Veranstaltungssaal des Klubs der Kulturschaffenden war rappelvoll, erinnert sich Poetke. »Wir mussten noch zusätzlich Stühle hineinstellen.« Es hatte sich eine intellektuelle Elite eingefunden, Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler, Anwälte. Viele von ihnen hatte Besorgnis in diesen Raum getrieben. »Es gab in den letzten Monaten zunehmend aggressive Stimmung gegen Ausländer«, erinnert sich Irene Runge. Die latente Fremdenfeindlichkeit richtete sich u.a. gegen Polen, denen vorgeworfen wurde, die Läden leer zu kaufen. Auch Schändungen jüdischer Einrichtungen häuften sich. Erst im September war die Mauer des Jüdischen Friedhofs Weißensee mit »Juden raus!«-Sprüchen beschmiert worden. Seit 1987 Skinheads ein Konzert von »Element of Crime« und »Firma« in der Zionskirche gestürmt hatten, war Antisemitismus in der DDR aktuelles Thema. Die Skinheads prügelten nicht »nur« auf Punks, Hippies und Alternative ein, sie riefen auch »Juden raus aus deutschen Kirchen«. Im Winter 1987/88 wurden von MfS und Polizei 40 Strafverfahren gegen 108 rechte Jugendliche eingeleitet, 94 von ihnen gingen in Haft. 1988 wurden 185 rechte Straftaten registriert und 44 Ermittlungsverfahren eingeleitet. 1989 schließlich wuchs die Zahl auf 300 Straftaten mit rechtem Hintergrund und 144 Ermittlungsverfahren an. Doch erst ab Herbst 1989 wurde auch öffentlich darüber diskutiert. Bis dahin hatte die karge offizielle Sprachregelung Bestand, die Antisemitismus und Rechtsradikalismus in der DDR entweder durch eine vom Westen überschwappende Welle oder pathologische Deformationen Einzelner ausgelöst sah. Auf DDR-interne Zusammenhänge hatte im November 1988 erstmals der Regisseur Konrad Weiss hingewiesen. In seinem Text »Die neue alte Gefahr« (ab März 1989 in Samisdat-Publikationen vertrieben) erklärte er Anpassung und Duckmäusertum zu begünstigenden Bedingungen für die Renaissance nie ganz ausgerotteter brauner Wurzeln. Dokumentarfilmer Roland Steiner, dessen bemerkenswerter Film »Unsere Kinder« am 1.12.89 in Ostberliner Kinos anlief, verortete rechtsradikale Ästhetik innerhalb bestimmter verordneter Rituale, wie etwa dem Fackelzug der FDJ. Skins und Faschos, so Steiner im November 1989 in der taz, stünden nicht imaginär außerhalb der Gesellschaft, sondern sie seien in der Jugendszene verankert, Teil deren Kultur - eben »unsere Kinder«. In der Jüdischen Gemeinde hatte man, betont Irene Runge, bereits länger intensiv über diese Entwicklung gesprochen. Auf dem Kolloquium nun wurde die Befürchtung laut, dass sich Antisemitismus in der DDR durch die »Wende« verstärken könnte. Den aktuellen Veränderungen in der DDR setzte sie ambivalente Gefühle entgegen: »Endlich hat dieses Volk sich auf sich selbst besonnen. Doch ich werde stutzig, wenn wieder nur wenige über die Mitverantwortung sprechen. Für mich beginnt das heutige Dilemma nicht 1945 oder 1972 oder 1985. Es beginnt da, wo in freien Wahlen der Kasernenschritt, nicht aber der aufrechte Gang selbstbestimmend wurde: gegen eine Minderheit, die verfolgt, gejagt, vergast wurde.« Irene Runge rief 1989 dazu auf, »den Aufbruch, diese revolutionäre Entwicklung« zu nutzen, »um die Shoa nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, um unsere Positionen zu Israel publik zu machen, an die Geschichte der Juden in der kommunistischen, sozialdemokratischen und Arbeiterbewegung zu erinnern, an die Bundisten, an Juden im Spanienkrieg, an den jüdischen Widerstand, an die jüdischen Kommunisten, die in Stalins Lagern, nach Schauprozessen auch in Prag und Budapest zu Tode kamen.« Zum Abschluss ihrer Rede warb sie für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der DDR zu Israel. Im Versammlungssaal wurde erstmals öffentlich die israelische Flagge gezeigt. Das Fernsehen der DDR zeigte am Abend die Bilder. Unter der Regierung de Maizière wurde Israel anerkannt. Noch am Abend des 11. November beschlossen einige Kolloquiumsteilnehmer, darunter Runge und Poetke, einen Jüdischen Kulturklub als eigene, säkulare Institution aufzubauen. Am 22. Januar 1990 gründeten sie den Jüdischen Kulturverein Berlin. Von der unsicheren Situation der Juden in der Sowjetunion alarmiert, forderte dieser bereits am 9. Februar 1990 am Zentralen Runden Tisch der DDR, sowjetischen Juden einen Daueraufenthalt in der DDR zu ermöglichen. Es war wiederum die Regierung de Maizière, die die Forderung als Beschluss umsetzte. Im Januar 1991 konnte die Regierung Kohl die Einwanderung sowjetischer Juden nicht mehr stoppen. Runge und Poetke sind auch 15 Jahre danach noch voller Stolz und Freude, dass ihr Verein Initiator einer Einwanderung war, die neues jüdis...

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