- Politik
- Für Rio: Ein Abschied der fröhlich-melancholischen Art im Tempodrom
Bye-bye Junimond...
Ab 19 Uhr sollte Einlaß sein im Berliner Tempodrom, dem traditionsreichen Westberliner Veranstaltungszelt, das für dergleichen Ereignisse so günstig und zentral gelegen ist, daß es demnächst wird den Kanzleramts-Baumaßnahmen weichen müssen. 19.15 Uhr war schon kein Reinkommen mehr Im Zelt standen etwa dreieinhalb Tausend dichtgedrängt. Vor dem Zelt, wo nichts mehr zu sehen und kaum etwas zu hören war, noch einmal ein paar Hundert, und vor den Einlaßtoren nach Einschätzung der Polizei ein paar Tausend Menschen, die hinein wollten, um teilzuhaben.
Vor dem Zelt eröffnete laut Programm die Bolschewistische Kurkapelle, im Zelt der den älteren DDRlern aus besten Bayon-Zeiten bekannte Sonny Thet mit einem Cello-Stück. Rio sang uns von der Leinwand herunter an mit der Hollaender-Nummer »Wenn ich mir was wün-
schen dürfte«, und der Omnibus-Kinderchor schmetterte den »König von Deutschland«. Womit schon zwei Besonderheiten dieser Party aus traurigem Anlaß genannt sind: die starke Ostpräsenz, zumindest auf der Bühne, und der insgesamt nichtkommerzielle Charakter des Abends. Beides dürfte miteinander im Zusammenhang gestanden haben.
Auf den Weg gebracht wurde dieses denkwürdige Kultur-Ereignis naturgemäß in einer äußerst kurzen Frist, innerhalb einer dreiviertel Woche. Im Anschluß an die Beerdigung des Rockbarden sei die Idee geboren worden, habe man sich an die Arbeit gemacht. Freunde, Kollegen, Weggefährten wurden angerufen, und schon war ein hochkarätiges Rock-Pop-Konzert deutscher Zunge zusammengestellt. Lutz Kerschowski, Kollege von Rio Reiser und freundschaftlich mit ihm vertraut gewesen, war wesentlich daran beteiligt, und so nimmt die starke Präsenz ostdeutscher Musiker nicht wunder. Während allerdings von
den Westkollegen eher die Großen und ganz Großen der Szene angereist waren, die dieses oder jenes mit Rio erlebt hatten, kamen aus dem Osten eher die »Geheimtips«.
Die Familie hatte Corny Littmann, bestens bekannt vom Hamburger Schmidt-Theater, gebeten, durch den Abend zu führen. Er las Texte von Rio Reiser, erzählte Anekdotisches aus seiner langen Bekanntschaft mit dem Sänger und spielte, wie immer, mit den Tabus des gutbürgerlichen Lebens, so daß das antibürgerliche Leben der Hauptperson des Abends immer präsent blieb.
Mit wenigen Ausnahmen sang jeder Interpret, jede Gruppe, ein Lied von Rio Reiser oder ein eigenes. Kaum eine Spur von den sonst im Showgeschäft üblichen Eitelkeiten und Rangeleien; es ging eben darum, einen großen Kollegen, einen den Anwesenden wichtigen Menschen so zu verabschieden, wie es ihm gefallen hätte - mit den Worten, den Gesten und Tönen, die jedem Mitwirkenden zu Gebote stehen. So folgte der Schnurre von »Marlene
Jaschke« der Blues von »Engerling«, und zwischen all den Liedern sprach der Dresdner Pantomime Rainer König ohne Worte zum Abschied.
Natürlich war das Programm nicht ausgewürfelt worden, waren die Stars Grönemeyer und »Einstürzende Neubauten« im letzten Teil des Abends versammelt. Allerdings auch die »Linkssentimentalen Transportarbeiterfreunde«, die mit »Keine Macht für niemand« fü/ erhebliche Stimmung sorgten. Die eigentlichen Höhepunkte aber waren für mein Gefühl doch eher andere. Zum einen die Ex-Mitglieder der Ton Steine Scherben-Band, die verständlicherweise vom Publikum besonders gefeiert wurden. Sie gaben den Fans, was sie hören wollten - einen kurzen Moment authentischer Vergangenheit, in Verse und einen harten Beat gepackt, die von besseren Zeiten kündeten, von einer Jugend, die alles wollte und der alles erreichbar erschien. Und dann waren da noch Ulla Meinecke, die sehr eindringlich und intensiv sang: »Es ist vorbei, bye-bye Junimond.« So schlicht und unprätentiös, so einfühlsam und gekonnt, wie man sie seit eh und je kennt, und doch so anders an diesem Abend. Und Marianne Rosenberg. Wer weiß schon mehr von ihr, als daß sie in den Siebzigern als Schlagerstimmchen Hitparaden stürmte, wer verbindet
mit ihr anderes als »Er gehört zu mir«? Und nun sang dieses harmlose Schlagerstimmchen Verse aus der Feder des Rebellen, Weltverbesserers, Anarchisten. Und es ging auf eine eigentümliche Art zusammen und erzeugte beim Schreiber dieser Zeilen eine veritable Gänsehaut.
Bleibt noch zu berichten, daß hinter den Kulissen die Stars und Sternchen eine heitere Gelassenheit trugen und der ORB das Spektakel aufzeichnete. Alles in allem ein wunderschöner Abend, wie er zu den großen Ausnahmen zählt. Vielleicht kann er so interpretiert werden, daß deutsch-deutsche Gemeinsamkeit durchaus zu haben ist, wenn kommerzielle Interessen weitgehend hintenan stehen, und wenn es die westliche Seite wirklich will. Das zu zeigen, könnte so was wie Rios letzter Wille gewesen sein.
Auf der Heimfahrt im eigenen Wagen kam sich der Schreiber dieser Zeilen irgendwie ferngelenkt vor Da fiel ihm eine Bemerkung von Kennern der Szene ein, die eine dicke Wolke Hasch im Tempodrom wahrgenommen haben wollten und schon befürchteten, es könne jeden Moment abheben. Er kann dies weder bestätigen noch dementieren, da ihm als notorischem Nichtraucher die Kompetenz dazu fehlt. Aber die Vorstellung, daß Rio zu Ehren noch einmal ein kollektiver Joint in die Luft gestiegen sein könnte, ist ihm sympathisch.
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