Ein Licht für unser Land um 12 Uhr

Menschenkette hunderttausender Bürger durch die DDR am 3. Dezember 1989

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.
Mit unserer Serie gehen wir bis zum Jahresende auf Zeitreise in den Alltag von 1989. Kleine wie große Ereignisse in der damals noch geteilten Stadt spielen eine Rolle. An die Atmosphäre im Wendejahr wollen wir erinnern und an Courage. Verschwundene Orte tauchen wieder auf. Von anderen wird erzählt, die erst 1989 entstanden. Auch Zeitzeugen kommen zu Wort. So soll sich übers Jahr ein Porträt unserer Stadt über die spannende Zeit vor 15 Jahren fügen.
3. Dezember 1989. Ein Sonntag. Ein Adventssonntag. Ein besonderer Adventssonntag. Denn hunderttausende DDR-Bürger steckten nicht nur am Wohnzimmertisch das erste Adventslicht an. Sie traten vielmehr mittags um 12 Uhr mit einer Kerze in der Hand auf die Straße. Eine Viertelstunde lang zog sich eine Lichterkette von Sassnitz über Berlin bis Zittau, eine zweite, aus Hirschberg nach Schwedt führend, kreuzte die erste in Berlin. Die Kette, die dem Verlauf der Fernverkehrsstraßen F 96 und F 2 folgte, war nicht komplett. Pfarrer Werner Liedtke, Leiter der »Aktion Sühnezeichen«, sagte damals zur »BILD«-Zeitung: »Demokratie hat eben immer auch Lücken, da kann man nicht Millionen Menschen mobilisieren und auch noch gleichzeitig auf 1500 Kilometer verteilen.« Die überkonfessionelle »Aktion Sühnezeichen« hatte Ende November 1989 zu der Menschenkette »Ein Licht für unser Land« aufgerufen. »Die Anregung kam von zwei Pfarrern der mecklenburgischen Landeskirche, von Andreas Malzahn und Andreas Schorlemer«, erinnert sich der damalige Geschäftsführer der »Aktion Sühnezeichen«, Michael Standera. »Sie kamen zu uns, weil wir in Berlin ansässig waren und die Initiative zentral steuern konnten.« 1958 in beiden deutschen Staaten als Organisation der aktiven Erinnerung an das Unrecht der NS-Zeit sowie Werberin für Versöhnung und Vergebung entstanden, griff die »Aktion Sühnezeichen« die Idee auf. »Es herrschte damals eine merkwürdige Stimmung im Volk«, beschreibt Standera. »Viele wussten nicht weiter. Die großen Demonstrationen waren vorüber. Die Mauer war zwar gefallen und eine neue Regierung arbeitete, aber noch immer verließen viele Menschen das Land. Wir wollten da ein Zeichen setzen. Die Reformen sollten weitergehen, und die Menschen sollten, um die Reformen zu befördern, weiter im Lande bleiben.« In dem Aufruf, der auf Flugblättern, in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen verbreitet wurde, erklärte »Aktion Sühnezeichen«: »Schließt Euch an aus allen Richtungen, sucht Verbindung zueinander aus allen Orten. Diese Menschenkette wird ein Zeichen der Hoffnung und Entschlossenheit sein für die demokratische Erneuerung in unserem Land. Wir halten fest: Aneinander. An unserem Land. An der Reformbewegung.« Den Berlinern wurde in einem Extra-Aufruf noch nahe gelegt: »Jeder darf ein Teil dieses lebendigen Bandes sein.« Alle Teilnehmer wurden aufgefordert, sich an der Ostseite der Straße aufzustellen, keine Querstraßen, Kreuzungen und Bahnanlagen zu blockieren sowie Lichter und Transparente mitzunehmen. Klaus Freymuth, 1991 verstorbener Filmemacher und Dokumentarist des »Neuen Forum«, war am 3. Dezember mit seiner Kamera auf der Dimitroffstraße (heute Danziger Straße) zwischen Prenzlauer und Schönhauser Allee unterwegs. Sein ca. 10-minütiger Film zeigt Bilder eines sonnigen Wintertages. Es lag kein Schnee auf den Straßen, doch der den Mündern entweichende Atem bildete kleine Nebelschwaden. Dicht gedrängt standen die Menschen auf dem Bürgersteig. Die meisten hatten ernste Gesichter. Ab und an hellte ein Scherz die Mienen auf. Wenn das Fahrzeug, von dem aus Freymuth filmte, als Wagen des »Neuen Forum« erkannt wurde, flogen Worte der Anerkennung und des Zuspruchs in Richtung Kamera. Fast alle Leute hielten Kerzen in der Hand. Manche Kinder hatten Lampions dabei. Andere hatten selbst gemalte Transparente mitgenommen. »Freie Wahlen im Frühjahr schon, sonst klaut die SED die Revolution«, forderte ein Paar vor den herunter gelassenen Rollläden der Gaststätte »Schlachteplatte«. Eine ältere Dame hatte sich ein Plakat um den Hals gehängt mit »Für unser Land. Ohne Privilegien. Ohne Wendehälse. Ohne "kommerzielle Koordinierung". Ohne Neonazis«. In den Tagen zuvor war bekannt geworden, dass der Alexander Schalck-Golodkowski unterstellte Bereich »Kommerzielle Koordinierung« (KoKo) jährlich sechs Millionen DM zur Versorgung des Regierungsstädtchens Wandlitz bereitstellen musste. Zeitgleich war im Landkreis Rostock ein Waffenlager der »KoKo«-Firma IMES entdeckt worden. Von hier aus waren Waffen nach Lateinamerika, Afrika und den Nahen Osten verkauft, die dabei erzielten Devisen dem Bereich »Kommerzielle Koordinierung« zugeführt worden. In der Nacht vom 2. zum 3. Dezember 1989 tauchte Schalck-Golodkowski unter. Der Name des kurz darauf seiner Ämter enthobenen Staatssekretärs war in aller Munde. Wortfetzen wie »Konten in der Schweiz« wehten ins Mikrofon der Kamera. Andere sagten direkt ins Aufnahmegerät, dass sie hier stünden, um die Reformen zu unterstützen, um zu zeigen, dass noch viel verändert werden müsse. Dann fassten sich die Menschen an den Händen, betraten die Straße und gingen zur entgegengesetzten, durch einen Grünstreifen und Straßenbahnschienen separierten Richtungsfahrbahn der Dimitroffstraße. Autos hatten mittlerweile angehalten. Auch die Straßenbahnen blieben stehen. »Aus Solidarität«, hat Michael Standera beobachtet, der sich an der Kreuzung Dimitroff-/ Greifswalder Straße aufhielt. Freymuth fing weitere Impressionen ein. Ein junger Mann berichtete davon, dass er bei DT 64 gehört habe, in der Haftanstalt Bautzen seien Räume entdeckt worden, »die an das finsterste Kapitel deutscher Geschichte erinnern« - und noch in Benutzung gewesen seien. Ein Mann mit Schapka forderte die Umstehenden auf, sich nichts wegnehmen zu lassen. Er warnte: »Die warten doch nur darauf, uns zu kassieren.« »Die« waren Leute, die bereits zu jenem Zeitpunkt in der »BILD«-Zeitung nach Immobilien in der DDR inserierten. Der Mann prognostizierte den ratlosen Umstehenden einen Ausverkauf. Nicht weit von ihm entfernt ein Schwarz-Rot-Gold gehaltenes Transparent mit der Aufschrift »Für unser späteres Land, BRDDR, in den heutigen Grenzen«. Die Hoffnungen und Ängste der Teilnehmer der Menschenkette waren durchaus vielgestaltig. Es lag im Interesse der Veranstalter, diese Vielfalt nicht zu leugnen, ihre Träger aber auch an ihre Gemeinsamkeiten zu erinnern. Die Opposition hatte sich ausdifferenziert. Mit ihr die Bevölkerung. Die Menschenkette war ein Versuch, Antlitz und Gestalt der Reformkräfte in einer geschlossenen Form wieder sichtbar zu machen. Für »Aktion Sühnezeichen« barg die Menschenkette auch immer die Momente der Versöhnung. Als historischen Anknüpfungspunkt nennt Michael Standera die 1982/83 zwischen der sowjetischen und der US-Botschaft in Ostberlin geplante - und vom MfS verhinderte - Kette von Gegnern der Stationierung von »Pershing II«- und »SS 20«-Raketen. An die Großmächte wurde appelliert, das einst von ihnen befreite Land nicht mit Atomwaffen zu bestücken. 1989 fand das Engagement für die DDR breitere Zustimmung. In Greifswald, wo der Gedanke an die 89er Menschenkette zuerst entstanden war, schloss sich sogar die SED-Kreisleitung dem Aufruf an. »Aktion Sühnezeichen« hatte außerdem bei sowjetischen Garnisonen nachgefragt. »Die Strecke führte gerade im Norden durch viele Waldstücke. Weit und breit keine Ortschaft. Da haben wir uns gedacht, "die Lücke könnten doch Soldaten füllen". Unsere Mitarbeiter sind tatsächlich auf Zustimmung gestoßen. Die Offiziere hatten ihnen gesagt, dass sie die Veränderungen mit Interesse verfolgen. Aber sie wollten sich nicht in die inneren Angelegenheiten der DDR mischen und behielten ihre Truppen lieber in den Kasernen.« Das »Licht für unser Land« brannte 15 Minuten, von 12 bis 12.15 Uhr. Dann war es erloschen. Nächste Woche: Ein Künstlerduo verkürzt die Zugspitze und zermahlt das Gestein in Kreuzberg.

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