Stutenmilch

Auf einer Farm im brandenburgischen Bredow wird ein Lebenselixier produziert

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.
Die Windräder am Horizont rotieren, als wollten sie durchdrehen. Der Wind - noch Wind, oder schon Sturm? - zaust auch die Birken entlang der Auffahrt, die letzten Rosen im Rondell, die langen wilden Mähnen der Pferde.
Stadtmenschen wie ich, die sich im Spätherbst in Watte, Schal und Handschuhe packen, bevor sie sich aufs Land wagen, sind einfach außer Stande zu glauben, dass Pferde zu dieser Jahreszeit unter freiem Himmel nicht frieren. Doch die genießen ihre Freiheit. Hier werden sie nicht eingesperrt, nie. Wenn sie Lust haben, können sie sich unter das Dach aus Plexiglas, durch das sie den Himmel sehen, zur Ruhe ins Stroh zurückziehen. Wenn sie Lust haben, können sie fressen. Sie haben Lust, sich zu bewegen.
Eine Stute kommt auf mich zu. Knuppert an meiner Jacke, meinem Schal. Nur einen Lidschlag lang legt sich die Sonne, die durch die Wolken bricht, auf ihr Fell. Als ich es liebkose, wärmt sie meine Hände.

* Ich könnte einen hübschen Text schreiben. Hier gibt es alles, was man dazu braucht: Tiere, eine Liebesgeschichte, Menschen, die sich einen Traum erfüllen. So etwas wird immer gern gelesen.
Auch ein krittelnder Text wäre möglich: Er würde von Luxus erzählen, einem Wohlstand, der vor 15 Jahren in der alten Republik beinahe zum Standard gehörte, doch in der neuen Republik, vor allem im Osten, deplatziert wirkt. Die Rede wäre von Fördermitteln, die für den Aufbau der Stutenmilchfarm »Grüne Oase GmbH« ins Brandenburgische Bredow flossen. Und von Finanzierungskrediten. Es geht nicht um Peanuts - eine Million Quadratmeter umfasst der Betrieb. Während der Quadratmeter Acker in Bayern Anfang der 90er Jahre etwa vier D-Mark kostete, kostete er hier im Osten nur eine. Immerhin! Dazu kämen Erschließungskosten, die Kosten für Stallanlagen und Technik sowie 105000 Dollar für die ersten neun russischen Lastenpferde. Plus je 400000 D-Mark für die schmucken achteckigen Holzhäuser, von denen es hier insgesamt sechs gibt und die das Zentrum der Farm bilden...
Doch wer mag angesichts von Schönheit schon von schnödem Geld reden? Elvira Hagen und Johann Raps wollen das offenkundig nicht. Auch ich habe keine Lust mehr dazu und entscheide mich für den hübschen Text, denn hübscheTexte, wie gesagt, liest man nicht nur lieber als krittelnde, es macht auch mehr Freude, sie zu schreiben. Und Freude, Lebensfreude ist es, was sich einem in Bredow mitteilt.
Das liegt zunächst an Elvira Hagen. Jede Bewegung der selbstbewussten 39-Jährigen sagt: Was ich hier mache, mache ich gern; ich möchte nirgendwo anders leben! Obwohl es auf der Stutenmilchfarm selbst im Spätherbst romantisch ist, wundert man sich doch ein bisschen. Schließlich stammen Elvira Hagen und Johann Raps aus dem unvergleichlichen Bayern. Vor 28 Jahren ging Raps nach Berlin, wo er Steuerberater wurde. Und warum geht ein Mädchen aus Bayern weg? Weil es einem Mann folgt, den es liebt. 1984 folgte Elvira Hagen Johann Raps nach Berlin. Zwölf Jahre später dann nach Bredow. Weil beide einen Traum hatten, den sie sich bei den Grundstückspreisen in Bayern hätten aus dem Kopf schlagen müssen. Sie wollten »Landwirtschaft mit Gesundheit verbinden, in der Natur leben und arbeiten«.
Nein, es ist nichts verwerflich daran, einen Vorteil zu nutzen, der sich bietet. Es gibt auch Ossis, die das können. Weshalb man nicht sagen darf: typisch Wessis! Zumal der Vorteil, den sie nutzten, auch zum Vorteil der Region ist. Die setzt, wie übrigens inzwischen beinahe alle Regionen in Deutschland, auf so genannten sanften Tourismus. Im weitesten Sinne also auf Wellness. Elvira Hagen, die sich inzwischen zur Heilpraktikerin hatte ausbilden lassen, schwebte der Anbau von Pflanzen vor, die man zur Heilung einsetzen kann. Allerdings ist der gewerbliche Anbau von Heilpflanzen kontingentiert, »weil sich die Pharmaindustrie nicht in die Suppe spucken lässt« - so fiel diese Idee schon mal weg. Ziemlich schnell kamen sie auf Pferde - »doch nicht auf Haflinger, die hatten alle.« Sondern auf russische Lastenstuten, Jahrhunderte lang daraufhin gezüchtet, qualitätsvolle Milch zu geben. Und hier fügt sich zur Liebesgeschichte gleich noch eine Geheimdienststory: Eine Bekannte, die den KGB-Chef und den russischen Landwirtschaftsminister kannte, ermöglichte es ihnen, neun dieser russischen Stuten zu erwerben. Die stammen von einer Farm bei Moskau mit angeschlossenem Sanatorium, wo den Patienten Stutenmilch zu Heilzwecken verabreicht wird. Im Juli 97 standen die Pferde endlich an der Oder, sollten aber zurückgeschickt werden, weil sie wegen des Hochwassers die Grenze nicht überqueren durften. Im Hinblick auf die Situation durften sie dann doch passieren. »Einen Rücktransport hätte man den Tieren nicht zumuten können. Obwohl wir für alles gesorgt hatten: Sie kamen in einem Scaniatransporter, den zwei Fahrer und ein Tierarzt begleiteten. Als wir den Transporter hier aufmachten, stiegen unsere Pferde ab, als wären sie immer hier gewesen. Als hätte es keine Strapazen gegeben.«

* Stutenmilch wird nicht ohne Grund respektvoll »weißes Gold« genannt. Sie ist sehr wertvoll, aus zweierlei Gründen. Erstens lassen sich Stuten nur melken, wenn sie wirklich dazu bereit sind. Denn anders als Kühe hat die Natur sie nicht mit einem Vorratseuter ausgestattet, so dass sie nicht gezwungen sind, aus physiologischen Gründen Milch abzugeben. Sensibel, wie Mutterstuten sind, gestatten sie das Melken nur, wenn sie sich wohl, nicht gestört, nicht bedrängt fühlen. Schon aus diesem Grunde muss, wer etwas von ihnen will, auch mit ihnen sensibel umgehen. Die Haltung muss artgerecht, der Umgang vertraulich sein. Zwischen 20 und 30 Liter Milch produziert eine Stute pro Tag, davon 90 Prozent für ihr Fohlen. Bis das Fohlen neun Wochen alt ist, stört man sie hier überhaupt nicht. Danach gibt sie - ist sie geneigt - pro Melkvorgang ein bis zwei Liter ab. Und das, hat man Glück, zwei Mal am Tag.
Der Wert der Stutenmilch ergibt sich zweitens aus ihren Inhaltsstoffen. Sie ist bekömmlich wie Muttermilch (schmeckt allerdings wesentlich besser), und kann die selben Wunder vollbringen. Den Menschen versorgt sie optimal, was andere Nahrungsmittel nicht bzw. nicht mehr können. Sie enthält zahlreiche Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, Enzyme. Damit unterstützt sie die Verdauung und regeneriert den Darm, auch weil das Enzym Lysozym stark entzündungshemmend wirkt. So stärkt sie das Immunsystem. »Krankheitserreger«, sagt Elvira Hagen, »haben gar keine Chance, sich einzunisten. Und schon kleine Mengen genügen, um einen kranken Organismus zu öffnen und wieder umzuprogrammieren.«
Voraussetzung ist selbstverständlich, dass die Stuten natürlich gehalten werden. Für die Futtergewinnung stehen eigene Flächen zur Verfügung. Der Mist, der anfällt, wird kompostiert und zur Düngung der Flächen verwendet. Auf die Gesundheit der Tiere achtet die Heilpraktikerin auf dem Hof. Sie betreut die Pferde naturheilkundlich. Auf Impfungen, chemische Wurmkuren und Antibiotika wird verzichtet.
Man kann mit Elvira Hagen und Johann Raps trefflich darüber reden, wie man sich gesund ernährt. Darüber zum Beispiel, dass ein Apfel heute nur noch 20 Prozent des Vitamins C wie vor zehn Jahren enthält. Darüber, dass Vitamin C auch als Nahrungsergänzung sinnvoll ist, wenn es sich um das richtige handelt. Raps erzählt dann die Geschichte der deutschen Soldaten, die in Russland »fässerweise« Vitamin C zu sich nahmen, aber dennoch Skorbut bekamen. Und von der russischen Ärztin, die sie ein kleines Spältchen Zitrone auskauen ließ, das ausreichte, ihre Körperfunktionen wieder anzustoßen, in Gang zu bringen. Und darüber, dass Zitronen und Paprika heute auch nicht mehr das Wahre, weil mit Pestiziden verseucht, sind. Doch das Vitamin C der Stutenmilch...
Hier dreht sich alles um Stutenmilch. Das Lebenselixier schlechthin. Nicht nur für Kunden, auch für die Farm. Elvira Hagen hat sich auf der Landwirtschaftsschule Brandenburg zur Pferdewirtin für Zucht und Haltung qualifiziert, Johann Raps zum Landwirtschaftsmeister. Sie beschäftigen zwei Festangestellte, eine Halbtagskraft, zwei ABM-Kräfte und bilden zwei Azubis aus. Denn es gibt viel zu tun, auch sonntags. Die Stuten haben mittlerweile so viele Fohlen zur Welt gebracht, dass nun schon 50 Pferde, darunter auch Hengste, die Farm bevölkern. Zwar übernimmt moderne Technik einen Teil der Arbeiten, doch das Melken bleibt Sache des Menschen, und die leicht verderbliche Milch muss sofort schockgefrostet werden. Es sind Kleinunternehmer wie Hagen und Raps, die noch Arbeitsplätze schaffen.

* Sie tragen auch das Risiko. Die »Grüne Oase GmbH« bietet Stutenmilchkuren an. Je nachdem, ob für 28 oder für 42 Tage, kann man 28 oder 42 Viertelliterflaschen tiefgefrorener Milch ordern. Wer sie selbst abholt, kommt etwas günstiger weg, wer sie sich im Spezialbehälter mit Trockeneis nach Haus senden lässt, muss ein paar Euro drauflegen. Die zugesandte 42-Tage-Kur kostet 150 Euro. Nicht billig, und ich stelle mir vor, dass in Zeiten von »Geiz ist geil« der Markt nicht gerade üppig ist. Denkste. Johann Raps erzählt, ihr jüngster Kunde sei gerade drei Tage alt und liege im Krankenhaus Havelhöhe. Dieses Krankenhaus in Spandau genießt in der jungen Berliner Szene so etwas wie Kultstatus - kann eine Mutter ihr Kind nicht stillen, wird es dort mit Stutenmilch ernährt.
Doch auch über Mangel an älteren Kunden können Hagen und Raps nicht klagen. Zu ihren Stammkunden, das überrascht, gehören viele Polizisten. Vielleicht, weil sie als Beamte gut verdienen. Vielleicht aber auch, weil schon Dschingis Khan eine Stutenherde besaß, deren Milch er und seine Heerführer vor jedem Kampf zu trinken pflegten - ihr sollen sie Mut, Kraft, Ausdauer und die gewünschten Siege verdanken. Doch vielleicht ist der Grund ganz simpel, und Polizisten haben ganz einfach nur eine angeschlagene Gesundheit: Stutenmilch soll hilfreich sein gegen Stress und Übergewicht, chronische Erkrankungen von Herz- und Kreislauf, der Atemwege, des Magens, des Darms, der Bauchspeicheldrüse, der Niere und sogar der Psyche. Sie wird empfohlen bei chronischer Hepatitis, Krebs, TBC, Rheuma, Eisenmangel, Anämie, multipler Sklerose, Störungen des Schlafes, des Fettstoffwechsels. Auch bei Hauterkrankungen wie Schuppenflechten, Neurodermitis, Ekzemen und Juckreiz soll sie helfen.
Was kranker Haut hilft, kann gesunder nicht schaden. Deshalb hat Elvira Hagen Stutenmilchkosmetik entwickelt. Die Duschgels, Haarshampoos, Gesichtscremes, Body-Lotions und Ganzkörpermasken mit hohem Anteil an Stutenmilch sollen Entzündungen hemmen und entgiften. Sie enthalten keine Konservierungsstoffe, sind dennoch drei bis vier Jahre haltbar, »eine Weltneuheit«, strahlt die Geschäftsfrau, »woanders werden Sie das nicht finden.« Die Produkte der neuen Serie ENUA verströmen Düfte wie Vanille oder Linde, eins ist mit Chinin kombiniert: »Möglichkeiten gibts ohne Ende.«

Möglichkeiten, rentabel zu sein, fallen Elvira Hagen en masse ein. Die Heilpraktikerin empfängt hier Patienten. Auch Reisebusse halten gern, »ab zehn Leuten gibts Führungen«. Neuerdings bietet die »Grüne Oase« auch Seminare mit Pferden an, sie heißen »Pferde als Spiegel der Seele«. Wer »an sich arbeiten, Probleme bewältigen, etwas über sich selbst erfahren möchte«, kann hier einen Tag einkehren. Oder ein ganzes Wochenende - Übernachtung bieten die Häuser aus naturbelassenem Holz, deren achteckige Räume nach dem Feng-Shui-Prinzip erbaut sind. Gearbeitet wird mit Kaltbluthengsten, weil die aufnahmefähig, ruhig, gutmütig sind sowie »ein stabiles Gleichgewicht besitzen, das sie weitergeben können«. »Pferde«, glaubt Elvira Hagen, »reflektieren unsere Stärken und Schwächen. Geduldig lassen sie uns spüren, wenn wir unsere Mitte und Präsenz verlassen. Sie belohnen uns mit ihrer Energie, wenn sich unsere Energie und unsere innere Einstellung wieder in Harmonie befinden. Sie können energetische und emotionale Blockaden aufweichen, uns abnehmen, was uns belastet, und liebevolle Kraft schenken.« Da es bei der Arbeit mit den Pferden nicht um reiten oder bändigen gehe, sondern um »führen, Kommunikation und Zentrierung«, eigne sie sich auch fürs Managertraining. Oder fürs Mitarbeitercoaching. Bin ich wirklich ein Managertyp? Habe ich Durchsetzungsvermögen? Kann ich eine Gruppe leiten? Wie sehen mich die anderen? Antworten auf diese Fragen könne man von den Pferden erhalten. Unterstützt werde das Training durch Chi-Gong Energiearbeit sowie Innenweltreisen und Meditationen aus dem Huna-Schamanismus...
Man mag all das glauben oder nicht - Elvira Hagen und Johann Raps sind ganz zweifelsfrei Führungspersönlichkeiten. Als wir durch die Farm spazieren, an der Schwitzhütte vorbei, schließt sich ihnen die Katzenfamilie, die sich im Stroh geputzt hatte, samt Septemberkätzchen und Maikatern an. Eine lustige Prozession, angeführt von den beiden Chefs, bewegt sich durch das Farmgelände. Ausflug zwischen Stuten und Hengsten, denen der Wind durch die Mähnen fährt. Allmählich stellt sich ein Einklang her, trotz Kälte ein Wohlgefühl, das Städter wie ich nur selten empfinden. Die Windräder drehen fast durch. Elvira Hagen mag sie nicht: »Vögel und Insekten bleiben weg.« Zwar hört sie selbst die Rotation nicht, aber hören sie die Pferde? »Sie haben ja andere Schallfrequenzen. Wenn sie durch das Geräusch gestört würden, wäre das eine Existenzbedrohung. Dagegen könnten wir vorgehen.«
Es ist gut, wenn man weiß, was man will. Und wenn man weiß, wie man e...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.