Der Todesengel und die Diktatur
Aufzeichnungen des KZ-Arztes Mengele könnten auch seine Helfer entlarven
Seit die Tageszeitung »Folha de São Paulo« kürzlich Auszüge aus Briefen und Tagebüchern des KZ-Arztes Josef Mengele veröffentlicht hat, ist in Brasilien die Diskussion über das Verhältnis zu Altnazis, von denen nach dem Kriege etliche nach Südamerika ausgewichen waren, neu entbrannt.
Offenbar lebte Mengele, der sich zunächst in Argentinien und Paraguay aufgehalten hatte, von 1960 bis zu seinem Tod 1979 unter falschem Namen in São Paulo. Aus den jetzt veröffentlichten Dokumenten geht hervor, dass der »Todesengel von Auschwitz«, der Zehntausende in die Gaskammern und zu brutalen Menschenversuchen geschickt hatte, seine Verbrechen bis zuletzt nicht bereut hat. Neben Mengele lebten zwei weitere Kriegsverbrecher in São Paulo. Franz Stangl, KZ-Kommandant in Sobibor und Treblinka, arbeitete viele Jahre bei VW. 1967 verhaftet, wurde er 1970 zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Jahr darauf starb er. Gustav Wagner, Stangls Stellvertreter in Sobibor, wurde in den 70er Jahren aufgespürt und beging 1980 Selbstmord. Der Schriftsteller Deonísio da Silva hofft, dass durch weitere Nachforschungen neue Einzelheiten über die Altnazis in Brasilien und ihren Schutz durch höchste Stellen ans Tageslicht gebracht werden. »Wir bräuchten jemanden wie Uki Goñi in Argentinien«, sagt da Silva. Goñi erforschte die Verbindungen zwischen Argentiniens Präsident Juan Domingo Perón (1895-1974) und den Nazis während des Zweiten Weltkriegs und danach. Die brasilianische Ausgabe seiner Studie »Das wirkliche Odessa: Wie Perón die Nazi-Kriegsverbrecher nach Argentinien brachte« stellte er kürzlich in Rio de Janeiro vor. In seinem Roman »Die Akte Odessa « hatte Frederick Forsyth eine Organisation ehemaliger SS-Angehöriger konstruiert. Goñi schreibt, es habe nie eine homogene Gruppe dieses Namens gegeben, wohl aber ein weit verzweigtes Netzwerk. Am Beispiel Argentiniens untersuchte er, wie US-amerikanische und britische Geheimdienste zusammen mit dem Vatikan hunderten Nazi-Größen zur Flucht verhalfen. Selbst Papst Pius XII. war demnach im Bilde. Goñi geht es um die Suche nach Zusammenhängen. »Mein Interesse gilt nicht den Nazis, sondern der verblüffenden Unfähigkeit Argentiniens, seine Bösewichte aus der Mitte der Gesellschaft zu entfernen«, sagt er und verweist auf die rund 20000 Argentinier, die während der Militärdiktatur (1976-83) in Lagern umgebracht wurden. Auch die Korruption der politischen Elite habe historische Wurzeln. Aus ähnlichem Grund hält der brasilianische Journalist Alberto Dines die Mengele-Dokumente für wichtig: Briefe und Aufzeichnungen des KZ-Arztes könnten ein neues Licht auf die Militärdiktatur in Brasilien (1964-85) werfen. Derzeit wird über die Öffnung der Archive aus jener Zeit diskutiert. Mengeles Auslassungen über eine angebliche jüdische Kontrolle des Kulturbetriebs wertet Dines als Beispiel für die Wiederbelebung faschistischen Gedankengu...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.