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Nach Schlanstedt! Ihr Kinderlein kommet.

Sachsen-Anhalt Das neue Kita-Betreuungsgesetz und wie Kommunen versuchen, menschlich zu überleben Von Rene Heilig

  • Lesedauer: 7 Min.

In Magdeburg wollte man auch angesichts Bonner Sparbeschlüsse Vorsorge treffen. Und beschnitt im Rahmen des neuen Kinderbetreuungsgesetzes einige Zuschüsse für Kommunen und freie Träger.

IMD-Foto: Rene Heilig

Die Landes-CDU hat s herausgefunden: Das Gesetz trägt »eindeutig die Handschrift der PDS«. Pfui Spinne! möchte man ausrufen - selbst wenn man die üblichen ideologischen Ausfälle der einzig wahren Opposition wider die sozialistischen Tolerierer vernachlässigt. Denn pünktlich zum 1. Januar 1997 kletterten die Preise vieler Kindereinrichtungen. Teilweise unanständig.

Dr Rosemarie Heim sitzt für die PDS im Landtagsausschuß für Bildung und Wissenschaft und in dem, der sich um Jugend und Sport zu sorgen hat: Hält sie Eiternschröpfen für sozial? Nie! Nie sei es PDS-Verlangen gewesen, die monatlichen Landeszuschüsse pro Kind und Erzieher von 369 DM 1995 auf 370 DM »real herunterzufahren«. Noch drastischer wirke sich die Haushaltsschwäche im Krippenbereich aus. Statt 600 werden jetzt 100 DM weniger ausgereicht. Aufgehoben sind kreiseinheitliche Berechnungsformen. Was manche Kommunen verleitet, Kosten, die sich bislang irgend-

wie einbringen ließen, »weiter einfach umzulegen«. Auf die Eltern.

Bislang hatte das Land 60 Prozent der personellen Finanzaufwendungen getragen. Besonders in größeren Städten war da beschäftigungspolitisch einiges zu schaukeln. Nun stünden klare Normative im Gesetz. Mit den Kürzungen, so behaupten nicht nur SPD-Sozialpolitiker, könnten freie Träger »weitaus besser hinkommen« als kommunale Einrichtungen.

Heute rechnet sich eine Kindergartengruppe ab 15 Kinder 18 sind erlaubt, früher reichten 12, um für zwei Erzieherinnen Einstellungsverträge zu signieren. In der Krippe steht das 97er Verhältnis zwischen Kindern - Erziehern bei 5:1, im Hort veranschlagt man 10:1. Die »Handschrift der PDS« im Gesetz findet man vor allem in jenen Passagen, »in denen pädagogische Standards festgeklopft sind«. Rosemarie Heim bestand auf dem ausschließlichen Einsatz von ausge-

bildeten Erziehern und Regelöffnungszeiten zwischen 6 und 18 Uhr Auch die Mitsprache der Eltern sei im Bundesvergleich vorbildlich. »Freilich haben die Kollegen der SPD vieles davon gerne mitgetragen.« Schon um der CDU-Drängelei etwas'entgegenzusetzen. Christoph Bergners Parlamentarier wollten angeblich einen Gruppenschlüssel von 1.25 und in »kinderarmen Zeiten« Mutti-Aushilfen.

Die extremen Sozialabschneider kamen damit nicht durch. Unter anderem, weil »die Landesregierung im Sommer 1995 mit einem Faltblatt an die Öffentlichkeit gegangen (ist), um einen Diskussionsprozeß nach Manier des Runden Tisches in Gang zu setzten. Die Folgen waren vorhersehbar: Alle redeten mit, nur die wenigsten wußten wirklich Bescheid.« Diese Schelte ist nachzulesen in der CDU-Broschüre: »Bilanz des Scheiterns«. Mit dem Titel wird rot-grüne Politik attackiert.

CDU-Alternativen ließen nicht auf sich warten. Das Kommunalentlastungsgesetz bot die Chance. Ziel der CDU-Vorschläge: Absenken von Standards in den Bereichen Kinderbetreuung, Schule und Öffentlicher Personennahverkehr. Schülerbeförderung zu außerunterrichtlichen Veranstaltungen fiele weg, Mittagsmahlzeiten sollen nicht mehr Rechtens sein. So wie man den Anspruch auf einen Kitaplatz nicht mehr bis zum vollendeten 14. Lebensjahr, sondern nur noch bis zum Ende der Grundschulzeit gewähren will. Aus der sachkundigen Hausarbeitshilfe im Hort wird »Sachkunde« entfernt,

Mindestflächen pro Kind (Krippe 5 m 2 , Kindergarten und Hort 2,5 m 2 ) entfallen, und ein paar Gören mehr pro Kindergartengruppe werden auch nicht schaden. Denkt man in der CDU und weiß: Im Landtag ist das gegen SPD, Grüne und PDS wieder nicht durchsetzbar

Daher will Bergner über die Dörfer gehen. Um bei Leuten, die täglich in leere Kassen blicken, »parteibuchübergreifende Zustimmung« zu erheischen.

Da soll er um Schlanstedt einen Bogen machen. Der Ort ist bis nach Karlsruhe als »aufmüpfig« bekannt. Den dortigen Rotroben hat man jüngst erklärt, warum man nicht gewillt ist, die LPG-Altschulden zu übernehmen. »Und auch die 365 000 DM, die man uns als Altschulden für den häßlichen Wohnblock vorm Schloß aufbrummen will, werden wir nicht anerkennen,« erklären sie.

Bürgermeister in Schlanstedt ist Dr Gerd Schuster Seinen Namen findet man auch in der PDS-Abgeordnetenliste des Landtages. Schuster weiß auf Anhieb besseres zu machen mit dem Geld: Es gibt

noch Straßen im Ort, die man nur mit Traktoren befahren sollte und die kein Laternenlicht erreicht. Die Kleinkläranlage muß ertüchtigt werden, Windschutzstreifen könnten angelegt und »Himmelsaugen« geflutet werden. Das burgähnliche Schloß ist vom Pächter nicht allein zu halten, der Vorplatz soll Marktflecken für die Umgebung werden, die zerfallene Scheune Heimstadt für Vereine. Zudem müßte man einige der 89 kommunalen Wohnungen sanieren. »Doch dafür haben wir in diesem Jahr nur 100 000 Mark, 60 000 weniger als 1996.« Brigitte Kube, Schusters rechte Hand, die zudem auch noch die unentgeltliche Ausleihe in der Gemeindebibliothek betreut, weiß, was Leute reden. »Vor allem über unsere Kita.« Die ist jetzt dort, wo einst die Krippe war »Geschimpft haben einige, daß wir aus dem vor 20 Jahren gebauten Kindergarten herauszogen, um der Grundschule Platz zu machen.« Doch das mußte man, wollte man die Sekundarstufe in den Ort holen. Die ist nun in der alten Grundschule.

»600 000 Mark wurden zum Umbau in die alte Krippe gesteckt«, bestätigt Schuster, und er versteht den Unmut darüber Der Ort hat um die 1250 Einwohner und nur 36 Sprößlinge, die allmorgendlich in Krippe und Kindergarten gebracht werden. Daß die Hälfte der Handwerksaufträge - Heizungs-, Sanitär-, Maurerund Elektroarbeiten - im Ort blieb und mit dem Rest die Region beglückt wurde, galt als selbstverständlich.

»Die Gemüter haben sich beruhigt. Be-

sonders nach unserem Tag der offenen Tür 150 Leute waren da und freuten sich mit uns.« Sieglinde Hübner, Chefin der Kita, führt gerne Besucher durch das bunte, helle, TüV-gerechte Haus. Mit ihr arbeiten hier fünf Kolleginnen. »Trotzdem: Kein Vergleich, wir hatten mal 72 Kinder im Kindergarten und 40 in der Krippe.« Im Sommer wird Frau Hübner wieder 20 an die Schule abgeben.

»Früher ein Grund zu Freude, heute Aderlaß.« Er resultiert - wie im ganzen Land - aus zwei Ursachen. Zum einen wirkt sich der »Pillenknick« aus. Zum DDR-gemachten Elternmangel kommt eine Ungewisse bundesdeutsche Zukunft. Selbst die Enquete-Kommission »Schule der Zukunft«, die der Landtag einsetzte, wird so zu einer Truppe, die »Pfeifen im dunklen Wald probt«. Vor allem, weil Daten zur Wirtschaftsentwicklung fehlen.

Was sollen da Schlanstedter planen?! Wolfsburg, Helmstedt, Wolfenbüttel sind nah. Rund einhundert Dörfler zogen der Arbeit nach. Haben die rund 200 Ar-

beitsplätze des LPG-Nachfahren Bestand? Bleibt die Gärtnerei, die für zehn Leute Arbeit hat - solange Holländer hier Pflanzen für Berlin einladen? Schlanstedt war dereinst eine Saatzuchtdomäne. Sie wurde mit 20 Millionen Mark privat wiederbelebt. Das brachte Beschäftigung für 30. Auch der Coup, den die Gemeinde mit dem LPG-Lehrlingsinternat durchzog - da war Schuster Direktor -, brachte Zuwachs. Leider nur betagten. Logisch, es handelt sich um ein Altenpflegeheim.

In den vergangenen zwei Jahren kamen jeweils nur acht Schlanstedter zur Welt. Zu wenig, um dauerhaft Schulzentrum zu bleiben. Andere Gemeinden lokken Eltern mit einem Begrüßungsgeld, das böse ländliche Zungen als »Wurfprämien« niedermachen. »Wir bieten mehr«, behauptet Kita-Chefin Hübner und erklärt »indirekte Familienförderung«. Dafür holt sie ihre vom Gemeinderat beschlossene »Preisliste« hervor. Die rechnet mit Familiennettoeinkünften. Bis zu 2500 Mark sind pro Kind monatlich 100 DM angesetzt. Die Obergrenze liegt bei 5000 DM Einkommen. Das ist bislang von Schlanstedter Eltern unerreicht. Wenn es in einer Familie schulpflichtige Geschwister gibt, so wird für jedes Kind 30 DM Nachlaß gewährt. »Das gilt auch, wenn ein Kind bereits in der Abiturstufe ist.« Reine Theorie, freilich.

Und wie lange wird sich Schlanstedt die Praxis eigener Kinderbetreuung noch trauen? Keine Antwort. Wohl aber argumentiert man »mit dem Recht der Kinder, soziale Kontakte aufzubauen, sie auszuleben, gleichaltrige Freunde zu finden«. Gerade der »Trend zum Einzelkind« mache Kitas so wichtig, behauptet Sieglinde Hübner. Insgeheim quält sie der Gedanke, welche Kollegin wohl als nächste gehen muß. Der Idee, »mal ganz zart Fühler in Nachbargemeinden auszustrecken«, kann sie nicht viel Kollegiales abgewinnen. »Ihr Kinderlein kommet...« sei letztlich »eine sehr traurige Melodie«.

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