Schnee und Glatteis: Streupflichtiger muss nicht immer haften

Im norddeutschen Flachland sowie an Nord- und Ostsee ist den ganzen Tag über mit Regen-, Schnee- und Graupelschauern zu rechnen. In den nächsten Tagen regnet oder schneit es immer wieder - die Schneefallgrenze sinkt auf 300 bis 500 Meter, stellenweise sogar tiefer. Die Temperaturen erreichen minus 4 bis plus 4 Grad. Der Wind weht nach wie vor stark aus West mit Sturmböen, Schnee- und Eisglätte ist möglich ... So oder ähnlich lautet in hiesigen Breiten derzeit der Wetterbericht. Und bei Schnee und Eis ist bekanntlich Streupflicht angesagt. Aber Vorsicht - weder muss bei jeder Schneeflocke sofort gefegt werden; noch muss der Hausmeister nachts am Fenster stehen, um bei Schneefall seine Pflichten nicht zu verpassen. Die Streupflicht ist nämlich zeitlich begrenzt. Und so sollte, wer morgens bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und Niederschlag aus dem Haus geht, sich behutsam fortbewegen. Die allgemeine Streupflicht garantiert nämlich weder eisfreie Gehwege noch Schmerzensgeld und Schadenersatz bei folgenschweren Stürzen. Das geht zum Beispiel aus Urteilen hervor, über die der Anwaltsuchservice berichtet. Im konkreten Fall war eine Frau aus dem Rheinland morgens gegen 6 Uhr auf dem Weg zur Arbeit gestürzt. Beim Betreten des Bürgersteigs an einer abgelegenen und unbeleuchteten Bushaltestelle rutschte sie auf Glatteis aus. Sie brach sich das linke Handgelenk und verrenkte sich den Daumen. Die Gemeinde hatte an der Haltestelle zuletzt am Vorabend gegen 22 Uhr streuen lassen. Die getauten Schneereste waren aber über Nacht erneut gefroren. Die Dame verklagte die Gemeinde auf 15000 Euro Schmerzensgeld. Schließlich sei diese ihrer gesteigerten Streupflicht an öffentlichen Plätzen nicht nachgekommen. Die Richter am Landgericht Bonn wiesen die Klage jedoch ab (Urteil vom 21.04.2004 - Az.: 1 O 463/03). Das objektiv zumutbare Maß der Streupflicht sei auf die Zeit zwischen 7 bis 8 Uhr morgens und 20 Uhr begrenzt, so das Gericht. Zwar herrsche an zentralen Bushaltestellen mit hohem Fußgängerverkehr eine gesteigerte Sicherungspflicht. Doch sei die Haltestelle in diesem Fall nur gering verkehrswichtig gewesen. Grundsätzlich, so die Richter, bedeute die Streupflicht auch nicht, dass Wege bei eintretender Glätte derart bestreut werden müssten, dass ein Ausrutschen zu 100 Prozent ausgeschlossen ist. Ähnlich sahen es die Richter am Oberlandesgericht Celle (Urteil vom 27.2.2004 - Az.: 9 U 220/03). In ihrem Fall war ein Mann aus Niedersachsen morgens um 8 Uhr gestürzt. Der Mann rutschte bei Minustemperaturen und Sprühregen auf dem spiegelglatten Gehweg vor einem Privatgrundstück aus. Dabei erlitt er einen Oberschenkelhalsbruch, der ihn infolge der langen Krankschreibung den Job kostete. Der Mann forderte vom Grundstückseigentümer wegen Missachtung der Verkehrssicherungspflicht seinen gesamten Schaden ersetzt. Der jedoch wies den Vorwurf zurück, denn er habe bereits um 6 Uhr früh den Gehweg mit Salz gestreut. Da der anhaltende Regen sofort neues Eis auf dem gefrorenen Boden gebildet habe, sei wiederholtes Streuen zwecklos gewesen. So sahen das auch die Richter. Sie hielten in einer derartig extremen Situation weitere Streuversuche für aussichtslos und wiesen die Klage ab. Die Pflicht zum Streuen entfalle, wenn dadurch die Rutschgefahr nur unwesentlich oder gar nicht eingedämmt werden könne. Auch müsse der Streupflichtige nicht alternativ auf Sägespäne ausweichen, wenn Niederschläge sofort für eine neue Eisschicht sorgten. Schon gar nicht müsse er mit einem Schild vor Glatteis warnen, wenn die witterungsbedingte Gefahr für jeden offensichtlich ist. Was für Gehwege maßgebend ist, gilt erst recht für den Straßenverkehr. Wenn es nachts schneit und gefriert, müssen rechtzeitig vor dem Berufsverkehr die Hauptverkehrsstraßen gestreut werden. Anderenfalls haftet die Kommune bei glättebedingten Unfällen. So jedenfalls die Auffassung des Oberlandesgerichts Saarbrücken. Die Richter sprachen einem Autofahrer Schadensersatz zu, der auf abschüssiger, verschneiter Straße vor einer Kreuzung nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte und mit einem anderen Auto kollidiert war. Unabhängig von der Streitfrage, ob an abschüssigen Strecken generell eine »vorrangige Streupflicht« besteht, bewerteten die Richter den fraglichen Straßenabschnitt als »verkehrswichtig«. Er hätte damit im Streu-Plan Priorität haben müssen. Es hatte in den frühen Morgenstunden gegen 3.30 Uhr zu schneien begonnen, die Streufahrzeuge waren aber erst um 8Uhr an besagter Kreuzung. Das sei eindeutig zu spät, befand das Gericht, zumal die Kommune für die Zeitverzögerung keine plausiblen Gründe - etwa Ausfälle beim Personal oder bei den Fahrzeugen - geltend machen konnte. Deshalb wurde ihr unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung und der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht das Verschulden mit einer Quote von drei Viertel aufgebürdet. Ein Viertel musste der Autofahrer selbst tragen. (OLG Saarbrücken, Urteil vom 23. 12. 2003, Az.: 4 U 154/03) Dass die Geschwindigkeit stets den Straßenverhältnissen angepasst werden muss, ist eine Binsenweisheit, gilt aber in besonderem Maße im Winter. Bei Schnee- und Hagelschauern haben Autofahrer das Tempo deutlich zu reduzieren. Wer beispielsweise auf einer Bundesstraße bei Glätte mit Tempo90 unterwegs ist und dabei von der Fahrbahn abkommt, handelt grob fahrlässig, urteilte zum Beispiel das Landgericht Hannover. Der Kläger hatte eingeräumt, dass die Straße schneeglatt war. Der Unfall habe sich aber erst ereignet, als er versuchte, einem Reh auszuweichen. Ob dies tatsächlich der Fall war, ließ sich im Prozess nicht klären. Den Richtern kam es aber auf diese Frage ohnehin nicht an. Sie bewerteten bereits die Geschwindigkeit angesichts der bestehenden Straßenverhältnisse als weit überhöht - und das Verhalten des Klägers deshalb als grob fahrlässig. Unter Berücksichtigung von Schneefall, Hagel und Dunkelheit könne ein Tempo, das »nur knapp unter der bei günstigsten Verhältnissen geltenden zulässigen Höchstgeschwindigkeit« (100 Stundenkilometer) gelegen habe, nur als »gravierender und grober Verstoß« gewertet werden. Wörtlich hieß es weiter: »Die durch winterliche Straßenverhältnisse entstehenden Unfallgefahren liegen dermaßen auf der Hand, dass es eine elementare Erkenntnis für jeden Verkehrsteilnehmer sein muss, hierauf mit einer angepassten und deutlich reduzierten Geschwindigkeit zu reagieren.« (LG Hannover, Urteil v. 8.10.2003, Az.: 11 O 141/03) Manch einer, der für die Verkehrssicherungspflicht verantwortlich ist, glaubt jedweder Haftungspflicht zu entgehen, wenn er auf einem großen Schild deutlich mitteilt: »Bei Schnee und Eis wird nicht geräumt und nicht gestreut«. Auf nicht wenigen Parkplätzen gibt es diese Hinweise. Die Richter des Oberlandesgerichts Karlsruhe (Urteil vom 22. September 2004 - Az.: 7 U 94/ 03) sehen das Ganze aber etwas anders. Ein Parkplatz muss im Winter auch dann geräumt und bestreut werden, wenn der Betreiber ein solches Schild aufstellt. Das gelte vor allem dann, wenn es ein Kundenparkplatz ist, für dessen Benutzung Geld verlangt wird und dieser so eingerichtet ist, dass man nicht mit wenigen Schritten den Bürgersteig erreichen kann. Im konkreten Fall war ein Mann auf dem eisglatten Parkplatz des Hauptbahnhofes gestürzt. Trotz des Schildes begehrte der Mann Schadensersatz. Mit Erfolg! Wie die Richter feststellten, hätte der Betreiber dieses Kundenparkplatzes, wie ihn ein solcher Bahnhofsparkplatz darstellt, dafür sorgen müssen, dass den Besuchern mindestens eine Möglichkeit geboten wird, den Parkplatz gefahrlos zu verlassen bzw. das Fahrzeug wieder zu erreichen. Gleiche Sicherheitskriterien gelten übrigens auch für überdachte Parkplätze, meint das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg. Im konkreten Fall hatte eine Kundin ihren Pkw auf dem überdachten Parkplatz eines Einkaufsmarktes abgestellt. Beim Aussteigen rutschte sie auf einer nicht gestreuten Eisfläche aus und verletzte sich erheblich. Die glatte Stelle stammte von Schnee, der trotz inzwischen trockener Witterung noch auf dem Parkplatzdach gelegen und unter Sonneneinstrahlung Schmelzwasser abgegeben hatte, das auf dem kalten Boden der Parkfläche zu Eis gefroren war. Die Frau forderte vom Marktbetreiber Schadenersatz. Der hielt ihr entgegen, die Eisfläche habe sich erst im Laufe des Tages gebildet, und wegen der dort abgestellten Fahrzeuge habe dann nicht mehr gestreut werden können. Die Richter gaben der verletzten Kundin Recht. (Urteil vom 12.03.2003 - Az.: 14 U 172/02) Inhaber eines Einkaufsmarktes seien für ihre Parkplätze verkehrssicherungspflichtig, so die Richter. Sie hätten diejenigen Gefahren auszuräumen, die für den sorgfältigen Benutzer nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar seien und auf die er sich nicht einstellen könne. Im vorliegenden Fall habe die Kundin nicht mit einer Eisfläche unter der Überdachung rechnen müssen. Die Argumentation des Marktbetreibers, es habe wegen parkender Fahrzeuge nicht gestreut werden können, entlaste ihn nicht. Für ihn sei die Eisbildung konstruktionsbedingt voraussehbar gewesen, so die Richter. Wenn tagsüber ein Streuen nicht möglich war, dann hätte er die Überdachung so verändern müssen, dass von dort kein Schmelzwasser mehr auf die Parkfläche gelangen konnte. Stattdessen habe er sehenden Auges die Bildung von Eisflächen geduldet und nichts zur Entschärfung der Gefahr getan. Damit habe der Marktbetreiber gegen seine Verkehrssicherungspflicht verstoßen. Er sei deshalb gegenüber der verletzten Kundin schadenersatzpflichtig. Übrigens: Auch bei starkem Glatteis muss eine Unfallstelle abgesichert werden, um nachfolgende Fahrzeuge zu warnen. Darauf haben die Verkehrsrechts-Anwälte im Deutschen Anwaltverein noch einmal hingewiesen. Sie bezogen sich dabei auf ein Urteil des Amtsgerichts Schwelm. Im konkreten Fall war eine Autofahrerin auf eisglatter Straße ins Rutschen gekommen und gegen ein geparktes Auto geprallt. Sie ließ den Wagen stehen, ohne die Warnblinkanlage einzuschalten oder ein Warndreieck aufzustellen. Wenig später fuhr eine andere Fahrerin auf das stehende Auto auf. Vor Gericht stritten beide Frauen um die Haftungsquote. Die erste Unfall-Fahrerin meinte, es sei so glatt gewesen, dass es ihr unmöglich war, ein Warndreieck aufzustellen. Zudem hätte die zweite Fahrerin ohne weiteres an dem Hindernis vorbeifahren können. Das Gericht verteilte jedoch die Schuld zu gleichen Teilen. Zum einen hätte die erste Unfall-Fahrerin zwingend die Warnblinkanlage einschalten sowie den Versuch unternehmen müssen, ein Warndreieck aufzustellen. Schließlich habe sie ein Verkehrshindernis geschaffen, als sie ihr beschädigtes Auto auf der Fahrbahn stehen ließ. Die zweite Unfall-Fahrerin hätte wesentlich langsamer fahren müssen. Im Ergebnis sei das Verschulden der beiden Fahrerinnen gleich zu b...

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