Auschwitz-Häftling 67164

Die Geschichte von Gustav Schliefke - ein Deutscher aus Polen, der das Todeslager überlebte

  • Hans-Joachim Weise
  • Lesedauer: ca. 8.5 Min.
Er hat Auschwitz überlebt. Wenn er sich erinnert, dann scheint es, als rede er über Geschehnisse, die sich erst gestern zutrugen. Er spricht ohne eine Spur von Verbitterung, beantwortet alle Fragen geduldig. Wenn aber die Rede auf die Unmenschlichkeit von Gestapo und SS kommt, dann fällt es ihm schwer, ruhigen Ton beizubehalten. Dann spürt man die innere Erregung. Auch wenn die Wunden verheilt sind, Narben sind geblieben.
Gustav Schliefke wünscht, dass der Besucher rechts von ihm auf der gemütlichen Eckbank in der Küche seines Hauses Platz nimmt. Das rechte Ohr hat noch eine Hörfähigkeit von 55 Prozent, auf dem linken Ohr ist er fast taub - ein »Andenken« an die Gestapo. Er zeigt seine Hände. An den Gelenken und an seinen Unterschenkeln sind Spuren von Elektroschocks zu sehen.
Wie kam der junge Gustav in die Fänge der Gestapo und die Hölle des KZ Auschwitz? 

Geboren wurde er am 3. Februar 1921 in dem zur Gemeinde Kamiensk gehörenden Dorf Aleksandrów im Kreis Piotrków Trybunalski. Er gehörte zur deutschen Minderheit, die im Raum südlich von Warschau, zwischen Czestochowa (Tschenstochau) und Radom, verstreut in festen Siedlungsgemeinschaften, ansässig war. Polen und Deutsche lebten einträchtig nebeneinander. Doch das änderte sich nach dem Machtantritt Hitlers. Nicht gleich am 30. Januar 1933. Erst im Zuge der immer stärker nach Polen eindringenden Goebbels-Propaganda, die lautstark die »Unterdrückung« der deutschen Minderheit in Polen beklagte. Nationalismus und Deutschtümelei fluteten über die Grenze. Das in regelmäßigen Dosen verabreichte Gift wirkte. Nicht wenige ließen sich betören und von deutsch-nationalistischen, profaschistischen Verbänden anwerben.
Nicht so Gustav Schliefke. Nach Abschluss der 8. Klasse hatte er eine Tischlerlehre begonnen. Der Lehrling erlebte, wie die schlecht ausgerüstete polnische Armee der am 1. September 1939 eingefallenen Wehrmacht zwar erbitterten Widerstand leistete, dem weit überlegenen Gegner letztlich jedoch nicht gewachsen war. Der 10. deutschen Armee gelang ein schneller Vorstoß in Richtung Radomsko-Piotrków-Trybunalski (Petrikau) sowie Czestochowa-Radom. In der Nacht vom 17. zum 18. September floh die polnische Regierung nach Rumänien. Ab dem 12. Oktober 1939 gab es ein so genanntes Generalgouvernement, zu dem nun Aleksandrów gehörte.
Zwangsrekrutierung drohte dem jungen Mann. An Eroberungszügen und am Besatzungsregime wollte er sich jedoch nicht beteiligen. Der Vater fand einen Ausweg: »Junge«, riet er, »melde dich freiwillig zur Bahnpolizei, dann entgehst du der Wehrmacht.« So geschehen. Derweil begann sich in den Wäldern zwischen Radom und Lublin der polnische Widerstand zu organisieren. Mitglieder einer Partisanengruppe, die den jungen Bahnpolizisten aus der Zeit vor dem Überfall kannten, knüpften vorsichtig Kontakt. Aus seiner dienstlichen Tätigkeit wusste Gustav Schliefke, wann welche Militärtransporte über welche Strecken zu welchen Bestimmungsorten fahren sollten. Unentbehrliches Wissen für den »Schienenkrieg«. So begann seine Zusammenarbeit mit den Partisanen. Sein Freund Paul Weiß machte mit.
Wie er bei der Gestapo in den Kreis der Verdächtigen geriet, weiß Gustav Schliefke nicht. Er vermutet, dass im Februar 1942 erste Ermittlungen gegen ihn aufgenommen worden sind. Damals war in Kraków (Krakau) ein Zug mit Panzern zusammengestellt worden, der nach dem Verlassen des Stadtgebietes von Partisanen gesprengt wurde. Die Information über den Transport stammte von ihm. Beweisen konnte man ihm nichts. Indes: Waren die »Volksdeutschen« vor dem Überfall für die Goebbels-Propaganda der »Eckpfeiler des Deutschtums« im Osten gewesen, so galten nun viele als »unsichere Kantonisten«. Hatte sich dieser Schliefke nicht freiwillig zur Bahnpolizei gemeldet? War er eingeschleust? Ein Polenfreund?
Am 28. Mai 1942 war er verhaftet worden. Man folterte ihn im Gefängnis von Kraków, zeigte ihm seinen ebenfalls verhafteten Kameraden: auf einer Bank liegend, der Rücken von blutigen Striemen überzogen. Paul Weiß rührte sich nicht mehr. Gustav Schliefke beteuerte immer wieder: »Ich weiß nichts.«
Drei Wochen dauerten die Torturen. Dann wurde er in das Hauptlager von Auschwitz gebracht. Nach der Ankunft mussten sich alle nackt ausziehen und die Sachen auf einen Haufen legen. Danach kam der Befehl, sich rechts und links der Lagerstraße aufzustellen. Sechs oder sieben qualvolle Stunden vergingen, bis sie in einen Waschraum geführt wurden. Auf kaltem, feuchtem Betonfußboden sollten sie nächtigen. Am nächsten Morgen kamen Häftlinge, die den Neuankömmlingen die Köpfe kahl scheren mussten. Gustav Schliefke bekam die Nummer 67164 und einen roten Winkel an seine Häftlingskleidung. Die Verhöre und Folterungen gingen weiter. Er wurde an Stricken aufgehängt, die sich schmerzhaft in die Haut einschnitten. Wurde er bewusstlos, bekam er einen Guss kaltes Wasser ins Gesicht. Doch er gab nichts preis. Schließlich wurde er nach Block 18 A verlegt. Dort gab es kein Bett, keinen Strohsack, nur eine Decke für jeden Insassen. Im Winter krochen meist zwei Häftlinge zusammen unter die Decken, um sich gegenseitig zu wärmen. Wer erwischt wurde, kam auf den Bock und erhielt 25 Schläge.
Die Häftlinge wurden täglich früh um fünf Uhr geweckt. Gustav Schliefke war einem Arbeitskommando zugeordnet, das im Brückenbau beschäftigt wurde. Zum Setzen der Pfeiler mussten die Häftlinge bis in Brusthöhe im kalten Wasser stehen. Sechs Monate hielt er dies durch, dann nahm er allen Mut zusammen und bat den Kapo um Versetzung. Er kam für zwei Jahre in die Zementfabrik. Vom Regen in die Traufe. Sein Körper war täglich mit ätzendem grauem Zementstaub bedeckt.
Schlimmer aber noch war der tägliche Hunger. Als sich Gustav Schliefke einmal etwas Suppe stibitzte, wurde er mit 21 Nächten Stehbunker bestraft. In Auschwitz gemachte Fotos von Gustav Schliefke - nun nicht mehr als »Volksdeutscher«, sondern als Pole geführtLeid und Pein wären nicht zu ertragen gewesen, wenn es nicht in den Arbeitsräumen der Elektriker, gut versteckt, ein Radio gegeben hätte, Moskau und London gehört werden konnten. 

An einem kalten Dezembertag 1944 mussten Gustav Schliefke und Mitgefangene an der Lagerstraße antreten. Mit ihren Suppenschüsseln. Für jeweils sieben Mann wurde ein Kommissbrot und bitterer Tee ausgeteilt. Sie wurden zum Bahnhof von Auschwitz gebracht und in Viehwaggons verladen. Nach tagelanger Fahrt kamen die ausgemergelten, völlig erschöpften Häftlinge in der böhmischen Stadt Litomerice (Leitmeritz) an. Zwei Tage verbrachten sie in einem Gefangenenlager - ohne Essen. Am dritten Tag wurden sie zur Zwangsarbeit in einem unterirdischen Rüstungsbetrieb getrieben. Dort wurden Bomben hergestellt. Die Häftlinge mischten heimlich Sand in den Sprengstoff. Das wurde bemerkt, 16 von ihnen wurden »zur Abschreckung« erschossen.
Anfang 1945 erkrankte Gustav Schliefke an Fleck- und an Bauchtyphus. Er wurde in die Revierbaracke eingeliefert. Wer diese lebend verließ, musste schon eine Pferdenatur besitzen - und die Solidarität anderer Häftlinge erfahren haben. Der Blockführer steckte ihm unter Lebensgefahr etwas Essbares zu.
In der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1945 hieß es wieder antreten. 50 Häftlinge wurden von der SS aus der Stadt getrieben. Die Angst war groß, in letzter Minute erschossen zu werden. Doch die Peiniger hatten nur ein Ziel - sich selbst zu retten. So hieß es plötzlich »Halt!«, und dann: »Geht, wohin ihr wollt!.« Alles rannte los.
Die Nacht verbrachten sie in einer Scheune. Immer noch in Furcht vor sich in der Gegend herumtreibenden SS- und Wehrmachtseinheiten. Erst als sie auf tschechische Partisanen stießen, konnten sie aufatmen. Die meisten waren so geschwächt, dass sie nicht mehr weiterlaufen konnten. Sie wurden einige Tage von den Partisanen verpflegt und dann mit einem Güterzug in das befreite Wroclaw (Breslau) gebracht. Von hier aus trat Gustav Schliefke den Weg in Richtung Heimat an.
Erneut musste er die Feststellung machen, dass das Leben immer neue Fährnisse bereithielt. Nach den Erfahrungen der Besatzung war der Deutsche für viele Polen ein Nazi. Der Heimkehrer wurde in ein Internierungslager gesteckt, musste in einem Sägewerk arbeiten. Es gelang ihm, den Leiter von seiner antifaschistischen Vergangenheit zu überzeugen und zur Aufhebung der Internierung zu bewegen. Angesichts der unsicheren Verhältnisse blieb er - und forschte nach dem Verbleib seiner Angehörigen.
Nach Jahren erfuhr er, dass sie 1947 ausgesiedelt worden waren und im thüringischen Großbreitenbach eine neue Heimat gefunden hatten. 1950 erhielt auch er die Genehmigung zur Übersiedlung in die DDR. Seit 1955 ist er in Ilmenau sesshaft, arbeitete wieder als Tischler, bei der Firma Glaser, die später ein Betriebsteil des VEB Qualitätsmöbel Großbreitenbach wurde. 

Heute genießt er mit seiner ebenfalls aus Polen stammenden Frau Olga das Rentnerdasein. Auschwitz kann er nicht vergessen. Er macht nicht viel Worte, dieser Gustav Schliefke. Man muss ihn fragen.

Todeslager - Orte des Grauens
Bereits 1933 errichteten die Nazis erste KZ in Deutschland, mit Beginn des Krieges auch in den okkupierten Ländern. Im Folgenden sei an die größten KZ und Vernichtungslager erinnert. Die Zahl der Toten kann nur schätzungsweise angegeben werden.

Auschwitz:
Stammlager 1940, Birkenau und Monowitz 1941 errichtet, befreit am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee; 1,5 Millionen Tote (vor allem Juden und Sinti)

Belzec:
1941 errichtet, 1943 aufgelöst; über 600000 Tote

Bergen-Belsen:
1940 errichtet, befreit am 15. April 1945 durch britische Truppen; 80000 Tote (darunter allein 30000 sowjetische Kriegsgefangene)

Buchenwald:
1937 errichtet, befreit am 11. April 1945; 56000 Tote (vor allem Widerstandskämpfer aus ganz Europa und Bibelforscher)

Dachau:
1933 errichtet, befreit am 29. April 1945 durch die US-Armee; über 30000 Tote (darunter 1034 Priester)

Majdanek:
1941 errichtet, im Juli 1944 von SS geräumt; 200000 Tote (allein an die 80000 Juden)

Mauthausen:
1938 errichtet, am 5. Mai 1945 durch US-Truppen befreit; über 100000 Tote (vor allem Polen, Tschechen,deutsche und österreichische Kommunisten)

Ravensbrück:
1938/39 errichtet, befreit am 29. April 1945 durch die Rote Armee; 30000 Tote (ohne Opfer der »Todesmärsche«)

Sachsenhausen:
errichtet 1936, befreit am 22. April 1945 durch sowjetische und polnische Truppen; 100000 Tote (darunter 18000 sowjetische Kriegsgefangene)

Sobibór:
1942 errichtet, nach Häftlingsaufstand im Oktober 1943 aufgelöst; 250000 Tote (vor allem Juden aus Polen, Slowakei, Frankreich, Niederlande)

Theresienstadt:
ab 1941 eingerichtet, befreit am 8. Mai 1945 durch die Rote Armee; 33500 Tote im Lager (mit von hier in andere Vernichtungslager Deportierten 118000 Tote)

Treblinka:
errichtet 1942, nac...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.