Materie aus dem Nichts
Ein Physiker fasst zusammen, was wir heute über das Vakuum wissen
Man stelle sich einmal vor, aus der Welt würden alle Dinge und Gegenstände entfernt. Was bliebe übrig? Ein leerer Raum, das absolute Nichts? Diese Frage ist eine der ältesten naturwissenschaftlichen Fragen überhaupt, die früh auch das Interesse der Philosophen fand.
Es waren bekanntlich die Vorsokratiker, die unsere Vorstellungen über Sein und Leere nachhaltig geprägt haben. Thales von Milet sah es gewissermaßen als selbstverständlich an, dass der Raum ein Plenum, also kontinuierlich angefüllt ist, angefüllt mit Wasser, dem Urstoff der Welt. Zu einer ähnlichen Auffassung gelangte, obgleich er die Idee eines einheitlichen Urstoffs verwarf, der auf Sizilien geborene Arzt und Dichter Empedokles: »Im All gibt es nirgends einen leeren Raum, noch einen, der übervoll wäre.« Damit freilich hatten die alten Griechen ihre philosophische Originalität keineswegs erschöpft. Fast gleichzeitig mit Empedokles schrieben Leukipp und Demokrit der Materie eine diskontinuierliche Struktur zu und erklärten unmissverständlich: »In Wirklichkeit gibt es nur die Atome und den leeren Raum.« So unterschiedlich diese beiden Grundkonzepte auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, so hat sie die moderne Wissenschaft doch zu einem konsistenten Gesamtbild zusammengefügt, betont der Karlsruher Physiker Henning Genz, der in seinem Buch »Nichts als das Nichts« seine Leser zu einer anspruchsvollen Reise durch das unerschöpfliche Reich des Vakuums einlädt.
Diese beginnt 1644 in Florenz. Hier entdeckte Evangelista Torricelli den luftleeren Raum und widerlegte damit die auf Aristoteles zurückgehende Doktrin des »horror vacui«, wonach die Natur das Leere verabscheue und dessen Entstehung mit allen Mitteln zu verhindern suche. Einer der Ersten, der sich der Idee des leeren Raumes bediente, um die Bewegung der Himmelskörper zu erklären, war Isaac Newton. Der jedoch bestritt zugleich, dass dieser Raum im wahrsten Sinne des Wortes gar nichts enthalte. Erstens sei Gott darin anwesend und zweitens der so genannte Äther, den Newton mit dem absoluten Raum in eins setzte und der, weil er gleichsam als feinstofflich galt, die Bewegung der Himmelskörper in keiner Weise behinderte. Erst als die Maxwellsche Theorie des Lichts dem Äther Eigenschaften zuschrieb, die experimentell nachprüfbar sind. Nachdem sich diese Eigenschaften nicht verifizieren ließen konnten, wurde der Äther von Albert Einstein in dessen »Wunderjahr« 1905 kurzerhand aus der Physik entfernt.
Noch weniger als die klassische kennt indes die moderne Physik den leeren Raum, so dass die Plenisten unter den Vorsokratikern am Ende wohl Recht behalten hätten: Das Seiende verabscheut das Nichtseiende. Oder, wie Genz sagt: Ein Raum, der so leer ist, wie die Naturgesetze es erlauben, ist in Wirklichkeit nicht leer. Was aber befindet sich darin?
Von der Wärmestrahlung einmal abgesehen, die bei jeder Temperatur vorhanden ist, sind es vornehmlich Energiefluktuationen. Denn mag der Raum auch noch so leer sein, völlig zur Ruhe kommt er nicht. Vielmehr entstehen aus Schwankungen der Energie laufend Teilchen-Antiteilchen-Paare, die sich jeweils kurz voneinander entfernen, sich dann wieder vereinigen und durch Zerstrahlung gleichsam im Nichts verschwinden. Diese Teilchen, von denen es im Vakuum nur so wimmelt, nennt man »virtuell«, weil sie ohne Energiezufuhr von außen keine reale Existenz annehmen können. Dass der leere Raum zu einer solchen Dynamik überhaupt fähig ist, folgt aus der Quantenmechanik und speziell aus der Heisenbergschen Unschärferelation für Energie und Zeit. Denn danach muss das Vakuum permanent Energie verleihen, und zwar viel Energie für kurze und wenig Energie für lange Zeit. Das hat zur Folge, dass die leichtesten geladenen Teilchen, Elektronen und Positronen, weitaus häufiger in virtuelle Existenz treten als so schwere Teilchen wie Protonen oder Antiprotonen.
Bleibt noch immer die Frage: Was ist Vakuum eigentlich? Laut Quantenmechanik wird jeder Zustand niedrigster Energie als Grundzustand, der Grundzustand des leeren Raumes hingegen als Vakuum bezeichnet. Doch anders als die meisten vielleicht vermuten, befindet sich das Vakuum nicht dann im energieärmsten Zustand, wenn es völlig leer, sondern wenn darin »Etwas« enthalten ist: das so genannte Higgs-Feld. Dieses entstand, so sagt die Theorie, kurz nach dem Urknall in Folge eines spontanen Symmetriebruchs, bei dem Energie frei wurde. Allein aus diesem Grund ist das kontinuierlich mit Higgs-Feldern angefüllte Vakuum gegenüber der »absoluten Leere« energetisch bevorteilt. Außerdem wären ohne das Higgs-Feld sämtliche Teilchen masselos und würden sich wie das Photon mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Masse entsteht erst durch die Wechselwirkung der Teilchen mit dem »Quantenäther«, wie manche Physiker das allgegenwärtige Higgs-Feld auch nennen, für das allerdings der experimentelle Beleg noch immer aussteht.
Weitere erstaunliche Einsichten in die Natur des Vakuums verdanken wir der Allgemeinen Relativitätstheorie, die Einstein 1915 begründet hat. Danach ist der Raum, anders als bei Newton, kein passiver Behälter für die physikalischen Vorgänge, sondern an diesen selbst aktiv beteiligt. Kurz und prägnant lässt sich der Grundgedanke dieser Theorie so formulieren: Der Raum bestimmt, wie die Materie sich bewegen soll, und die Materie bestimmt, wie der Raum sich krümmen soll. Entfernt man aus dem Raum nun die gesamte manifeste Energie, oder kurz gesagt alle massebehafteten Objekte, bleibt auch hier keine völlige Leere übrig. Selbst ein objektloser Raum besitzt eine geometrische Struktur. Er kann flach oder gekrümmt sein - in Abhängigkeit von der darin befindlichen »dunklen Energie«, über deren Dichte im Universum wir aber nur wenig wissen.
Unklar ist auch, wie diese Energie sich in den Formalismus der Quantentheorie einfügen lässt. Denn bis heute haben es die Physiker nicht vermocht, Quantenmechanik und Allgemeine Relativitätstheorie miteinander zu vereinigen. Erst wenn dies geschehen sei, meint Genz, werde man genauer sagen können, wie viel Leere in ei...
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