Tod im eisigen Meer

Vor 60 Jahren: Der Untergang der »Wilhelm Gustloff«

  • Horst Diere
  • Lesedauer: 4 Min.
Im eisigen Januar des Jahres 1945 war der Krieg mit all seinen Schrecken und Grausamkeiten dahin zurückgekehrt, wo die ersten Schüsse gefallen waren. Dort, im Danziger Hafen Neufahrwasser, hatte am 25. August 1939 das alte kaiserliche Linienschiff »Schleswig-Holstein«, nun Schulschiff von Hitlers Kriegsmarine, zum »Besuch« festgemacht, unter Deck die nachts auf hoher See aufgenommene Marinestoßtruppkompanie. Diese Eliteeinheit für Landungsunternehmungen und Überraschungsangriffe begann am 1. September 1939 - mit Unterstützung der Schiffsgeschütze und Kräften der SS-Heimwehr Danzig - den Sturm auf die polnische Befestigungsanlage der Westerplatte. Fünfeinhalb Jahre später drängten sich nur ein paar Kilometer nordwestlich davon hunderttausend verzweifelte und erschöpfte Menschen, in der Mehrzahl Alte, Frauen und Kinder. Sie hofften, auf einem Schiff über See der Kriegsfurie entkommen zu können. In Gotenhafen, dem einstigen Gdingen und heutigen Gdynia, konzentrierten sich in der zweiten Januarhälfte 1945 die Ströme der Flüchtlinge vor der in Ostpreußen vorstoßenden Roten Armee. Gotenhafen war seit langem einer der wichtigsten Stützpunkte der deutschen Kriegsmarine. Hier, wie in den Häfen von Pillau und Danzig, lag damals eine ganze Flotte von größeren und kleineren Handels- und Passagierschiffen, darunter vier über 20000 BRT (Bruttoregistertonnen), wie die »Robert Ley« und die »Wilhelm Gustloff«. Viele große Dampfer dienten als Wohnschiffe, hauptsächlich für die zwei U-Boot-Lehrdivisionen in Pillau und Gotenhafen. Sie galten als besonders wichtig für die Fortsetzung des U-Boot-Einsatzes im längst verlorenen Krieg. Großadmiral Dönitz, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, ordnete am 21. Januar an, die beiden Lehrdivisionen und deren in Gotenhafen und Pillau stationierte Schiffe »umgehend in die Häfen der Lübecker Bucht zu verlegen, wo die Ausbildung schnellstmöglichst fortzusetzen bzw. abzuschließen ist«. Gleichzeitig sollten die Schiffe in Gotenhafen wartende Flüchtlinge aufnehmen. Die »Wilhelm Gustloff«, erbaut für die von der NS-Propaganda lautstark herausgestellten Kreuzfahrten der faschistischen Organisation »Kraft durch Freude« (KdF), war ein imposantes Schiff. Der Ozeanriese, bei Kriegsbeginn Lazarettschiff, lag seit Oktober 1940 als Wohnschiff an der Gotenhafener Pier und war seitdem keine Seemeile mehr gefahren. Beim Auslaufen des Schiffs, am 30. Januar 1945 gegen 13 Uhr, befanden sich über 7000 Menschen an Bord: Matrosen und Soldaten, Verwundete, Marinehelferinnen und mehrere tausend Flüchtlinge. Das überfüllte Schiff trat die Fahrt nahezu allein an, nur begleitet von dem kleinen Torpedoboot »Löwe«. An diesem 30. Januar, dem zwölften Jahrestag der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland, hielt Hitler seine letzte Rundfunkansprache, die auch auf die »Wilhelm Gustloff« übertragen, aber kaum zur Kenntnis genommen wurde. Was an Opfern sollten nach des Diktators Erwartungen diese auf dem Schiff zusammengepferchten, heimat- und besitzlos gewordenen Menschen noch auf sich nehmen? Dass an diesem Tag der Namensgeber der »Wilhelm Gustloff« fünfzig Jahre alt geworden wäre, interessierte wohl niemanden mehr (der Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz war 1936 von einem verzweifelten jüdischen Emigranten erschossen worden). Mit geringer Fahrt lief das Schiff in den eiskalten Abendstunden des Tages seinem Untergang entgegen. 20.16 Uhr, 12 Seemeilen querab Stolpmünde vor der pommerschen Küste, trafen drei Torpedos des sowjetischen U-Bootes »S-13« die »Gustloff«. Die sich nun auf dem Schiff und in dem eisigen Wasser bei einer Lufttemperatur von 18 Grad unter Null vollziehende Tragödie ist hinreichend bis in ihre schrecklichen Einzelheiten beschrieben und dokumentiert sowie in Fernsehfilmen dargestellt worden. Nachweislich 5384 Menschen (tatsächlich wohl viel mehr) fielen der »Gustloff«-Katastrophe zum Opfer, die in der Zeit des Kalten Krieges in der alten Bundesrepublik nicht selten politisch instrumentalisiert und in der DDR-Literatur stets nur knapp erwähnt worden war. Insgesamt waren in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges über tausend deutsche Handels- und Kriegsschiffe im Einsatz, um Verwundete, Flüchtlinge und Soldaten aus den Kampfgebieten Ostpreußens und Kurlands über die Ostsee zu evakuieren. Rund 2,5 Millionen Menschen wurden in den Ostseehäfen der späteren BRD und DDR angelandet. Sechzig Jahre danach wird der Untergang der »Wilhelm Gustloff« in der Publizistik meist sachlich dargestellt, ohne dass deswegen das unendliche Leid und die traumatischen Erlebnisse der damals 1239 Geretteten gering geschätzt werden. Weitgehend wird akzeptiert, dass der Kommandant von »S-13«, der Kapitän 3. Ranges Alexander Marinesco, einen Kampfauftrag zu erfüllen hatte: Das Schiff, dessen Name zum Zeitpunkt des Torpedoabschusses dem sowjetischen Marineoffizier wahrscheinlich unbekannt war, transportierte Soldaten und war mit Geschützen bewaffnet. Das stark verrostete und zerfallene Wrack der »Gustloff« liegt noch heute in sechzig Metern Tiefe vor Stolpmünde in der Ostsee und wurde zur Gedenkstätte erklärt.

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