Warum lässt Gott so Schlimmes zu?

Gedankenbeben - nach dem Erdbeben von Lissabon vor 250 Jahren

»Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muss man zusammen nehmen, um das Entsetzen einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn ein in seinem Grund bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmung vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweiflung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Mut niederschlagen.« Die Worte des großen Königsberger Denkers Immanuel Kant (1724 - 1804), vor fast 250 Jahren zu Papier gebracht, muten aktuell an nach der Katastrophe in Südostasien vor nunmehr einem Monat. Kant beschrieb das Erd- und Seebeben von Lissabon am 1. November 1755, das nach Zeitzeugen an die 60000 Menschen das Leben gekostet hat. Damals drang die seismologische Erschütterung auch die Köpfe der führenden Denker. Sie spürten, dass mit dieser Katastrophe die Grundfesten ihres Weltbildes mit einem gütigen Schöpfer an der Spitze erschüttert waren. Wie auch heute viele Menschen fragen, ob man denn angesichts der 160000 Toten nach dem Tsunami noch zu einem Gott beten kann, »der alles so herrlich regieret«. »Du ewiges Geschehen nutzloser Katastrophen! Ihr ruft: "Alles ist gut!" Getäuschte Philosophen, kommt her und schaut euch das an: entsetzliche Ruinen, die Scherben und der Schutt, von Asche die Lawinen, und Schicht auf Schicht gehäuft die Kinder und die Frauen, zerstreuter Gliederstaub, vom Marmorstein zerhauen!« Seine ganze Verzweiflung schreit Voltaire (1694 - 1778) in seinem »Poéme sur le désastre de Lisbonne« heraus. Gott habe die beste aller möglichen Welten geschaffen, meinte Leibniz. Doch schon Hiob im Alten Testament rieb sich an der Frage: Warum lässt Gott das Böse in der Welt zu, wenn er doch der perfekte Schöpfer ist? Leibniz spricht vom metaphysischen Übel der Endlichkeit, vom physischen Übel des Leidens und vom moralischen Übel der Sünde. Er will Gott eine Rechtfertigung für die Haken und Ösen in seiner Schöpfung abtrotzen - freilich mit eigenen Kräften. So antwortet er, dass Negativa nicht von Gott, sondern lediglich Mängel und Verkehrungen der göttlichen Schöpfung durch den Menschen seien. Gott wolle das Böse nicht, sondern er lasse es nur im Einzelfall zu, um die Gesamtheit der Schöpfung so vollkommen wie möglich darzustellen. Das Leiden sieht Leibniz als Strafe und Erziehungsmittel, die Endlichkeit als den unvermeidlichen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. So kann er den Gedanken formulieren, diese Welt sei die beste aller möglichen Welten, und um ihretwillen müsse das Glück einzelner Menschen geopfert werden. Die Schöpfung sei zwar vollkommen, doch dem Menschen fehle die Einsicht in die Sinngebung der jeweiligen Übel. Der Schock des Erdbebens von Lissabon lässt Voltaire über diesen Leibniz stöhnen: »Entsetzt, bestürzt, seiner Sinne nicht mächtig, über und über blutend und zitternd, sagte Candide sich: "Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?"« Prästabilierte Harmonie: Das war das Zauberwort des Philosophen Christian Wolff (1679 - 1754). Er zeichnete die Welt als eine in sich funktionierende Maschine mit Gott als oberstem Ingenieur. Aus dieser Grundeinsicht erwächst eine »natürliche Theologie«, nach der nichts wider die Natur sein darf. Doch die Natur spricht ein Jahr nach Wolffs Tod mit dem Erdbeben von Lissabon ein leidvolles Machtwort gegen die Hybris dieses Denkers und seiner Schule. Sinnkrise der Philosophie und der Theologie: Der junge Goethe (1749 - 1832) erinnert sich später, das Erdbeben von Lissabon habe seinen Glauben an Gott zutiefst erschüttert. Natürlich mischt auch er sich ein in die Diskussion über dieses »außerordentliche Weltereignis«. Das unendliche Leid macht die Suche nach einem neuen Sinnzusammenhang schwer, die Betrachtungen widersprechen einander: Philosophen suchen nach Trostgründen, orthodoxe Geistliche sehen in der Katastrophe eine Strafe Gottes, pietistische Prediger versprühen unter Hinweis auf Gottes Gnade Trostbalsam. Doch niemand gibt dem jungen Goethe eine Antwort, warum Gott die Gerechten und die Ungerechten gleichermaßen dem Verderben preisgegeben hat. Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes für das Übel in der Welt entwurzelt die Menschen. Kant hat dies erkannt und in seiner kleinen Schrift »Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizée« zur intellektuellen Bescheidenheit gemahnt. Es könne nicht Aufgabe der Philosophie sein, Gottes Willen zu erkennen. In seinen Schriften über das Erdbeben von Lissabon schreibt er: »Die Natur hat nicht vergeblich einen Schatz von Seltenheiten überall zur Betrachtung und Bewunderung ausgebreitet. Der Mensch, welchem die Haushaltung des Erdbodens anvertraut ist, besitzt Fähigkeit, er besitzt auch die Lust, sie zu kennen, und preiset den Schöpfer durch seine Einsichten. Selbst die fürchterlichen Werkzeuge der Heimsuchung des menschlichen Geschlechts, die Erschütterungen der Länder, die Wut des in seinem Grunde bewegten Meeres, die feuerspeienden Berge, fordern den Menschen zur Betrachtung auf und sind nicht weniger von Gott als eine richtige Folge aus beständigen Gesetzen in die Natur gepflanzt, als andere schon gewohnte Ursachen der Ungemächlichkeit, die man nur darum für natürlicher hält, weil man mit ihnen mehr bekannt ist. Die Betrachtung solcher schrecklicher Zufälle ist lehrreich. Sie demütigt den Menschen dadurch, dass sie ihn sehen lässt, er habe kein Recht, oder zum wenigsten, er habe es verloren, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequeme Folgen zu erwarten, und er lernt vielleicht auch auf diese Weise einsehen: Dass dieser Tummelplatz seiner Begierden billig nicht Ziel aller seiner Absichten enthalten sollte.« Heinrich von Kleist (1777 - 1811) reißt gut 50 Jahre nach der Katastrophe von Lissabon das Problem des Übels in Gottes Schöpfung mit seiner kleinen Schrift »Das Erdbeben von Chile« erneut an. Er beschreibt eine Katastrophe aus dem Jahr 1647 und fragt, warum Gott es zulässt, dass die Natur Fromme und Unfromme gleichermaßen vernichtet. Der Dichter zerbricht schließlich an dieser Frage und endet sein Leben von eigener Hand. Sein Zeitgenosse Arthur Schopenhauer (1797 - 1849) predigt einen grundsätzlichen Weltpessimismus: Das Übel gehört schlechthin zur Welt, es bringt Leiden, wenn man an diesem Wesen der Welt Anteil hat und durch seinen Willen diese Welt tätig bejaht. Nur durch Erkenntnis könne der Mensch von der leidvollen Seite der Welt frei werden und zu einer kosmologisch begründeten Erlösungslehre finden. Der rein philosophische Ansatz ist der schwächste Trost in der Leidensflut. Zur Zeit des Erdbebens von Lissabon gehörten Glauben und Denken noch eng zusammen, auch wenn sich beide oft aneinander gerieben haben. In der säkularisierten Gegenwart, wo Schlagworte vom Tode Gottes und von Globalisierung die Runde machen, ist das Denken an anderen Koordinaten auszurichten. Die Philosophie hat eingestanden, dass sie keine letzten Antworten auf das Leid in der Schöpfung findet, und die Suche danach den Theologen überlassen. Auch sie sind nicht fündig geworden und werden nicht fündig. Die Menschen sind auf sich gestellt, das Leiden zu lindern. Das kann funktionieren in einer globalen Verantwortung füreinander. Politiker müssen agieren, anstatt sich mit Reagieren zu begnügen. Müssen mehr, als nur neue Frühwarnsysteme einrichten wollen. Die Bürger dieser Welt scheinen ihre Verantwortung füreinander erkannt zu haben, wie die vielen großen und kleinen Spenden zeigen. Ob sich die wohltätige Welle der Hilfsbereitschaft auf religiöse Fundamente, auf den kategorischen Imperativ oder einfach auf menschl...

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