In Berlin und über den Wolken

Wolfgang Sämann: Zwei neue Bücher

  • Hannes Würtz
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.
Hier ist Literatur, die fast vor meiner Haustür ihren Ursprung hat. In Niederschöneweide, dicht an der Spree, produzierten bis zu ihrem Niedergang die Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerke (BHMW). Wolfgang Sämann, bekannt geworden mit Erzählbänden wie »Das Haus des Dr. Pondabel« (1979), arbeitete in diesem Betrieb als Diplomingenieur. Heute führt eine neue Straße quer durch einstige Hallen. Restliche Backsteinbauten verfallen mehr und mehr. Das verwitterte Kulturhaus, vor dem 1990/91 mittags zur Beköstigung noch Reisebusse hielten, hat ausgestopfte Fensterhöhlen. Und der Bronzekopf des Spanienkämpfers Ernst Schneller davor verschwand kürzlich über Nacht von seinem Sockel. Sämann alias Sebastian Malthus erzählt autobiografisch aus Zeiten, als dieses Werk intakt war. Ein »Betriebsroman«, in dem Worte wie Neuerervorschlag, ökonomisch-kultureller Leistungsvergleich oder gefährdete Planerfüllung (Angestellte in die Produktion!) heute antik anmuten. Rohbraunkohle statt Briketts, was zu Verpuffungen führt und zu Unfällen, an denen in diesem Buch kein Mangel ist. Einmal taucht die Kranführerin versehentlich einen Mann ins Beizbecken, nachdem ihr zur Erfüllung des Quartalsplans Sekt kredenzt wurde. Alltag anno dunnemals, dem jedwede Heroisierung gekappt ist, der mit lakonischen Mitteln ins Röntgenbild gerät. Bruchstückhaft, zumal parallel die Geschichte des Vaters erzählt wird, der einem besser funktionierenden Wäschereibetrieb im sächsischen Rothemark vorsteht, mit Aufträgen auch für die sowjetische Armee. Malthus heiratet Kollegin Antonella, deren Tochter schon 11 ist und die in einer Bruchbude wohnt (AWG lässt auf sich warten). Er schläft auch mit Gisela Haseleu, liiert mit einem alkoholkranken Mann. Ehe- und Produktionseinblicke. Der neue Kleinrechner aus Kiew humpelt elektronisch, macht mehr Fehler als er hilft. Und Antonella steigt zur wissenschaftlichen Mitarbeiterin beim Kaufmännischen Direktor auf. Bis das Werk als letzten Akt sozialistischer Wirtschaftsbeziehungen 70 Tonnen Altöl nach Bulgarien verscherbelt. Zu einer Zeit, als Malthus mit Tochter Dani dort in Primorsko Sandburgen baut und noch kein Westgeld hat. Auch bei der Fantasy-Story »Der zweite Atem« spinnt Sämann Fäden vom Großbetrieb BHMW aus. Die Hauptfigur Karoli Ostermeier, gefördert durch Kultur-As Wolfram, Lehrausbilder und Lebensberater, hat bereits als Kind Gedichte geschrieben, die auch Anna Seghers, Nachbarin in Berlin-Adlershof, zu Gesicht bekam. Eine Bewerbung am Leipziger Literaturinstitut aber wird abgelehnt, da der Klient wie Stefan George schreibe und man keine elitären Nattern am sozialistischen Busen züchten wolle. Aus der Studiertraum für Karoli. Auch sein Erdenleben erlischt mit 19 Jahren. Wieder mal ein Betriebsunfall. Auf in den Himmel. Den jedoch erlebt der junge Arbeiterdichter, von Galaxis zu Galaxis schwebend, ziemlich sensationell. Gott erklärt das Dekret von der Auferstehung des Fleisches, woraufhin jeder seine Verwandten empfangen darf. Die Lemuren erwarten ihre Frühverrentung. Karoli O., Registrator und Interpretator, soll vor dem Hohen Rat Auskunft geben über die Enklave zwischen Elbe und Oder. Und Wotan sagt: Mich dauert dieser erblindete Junge. Er könne doch kein Fernstudium vom Himmel aus machen. Er müsse zurück zur Erde. Zwar kehrt Karoli mit Asteroidengeknatter eines Tages wieder, mittenmang in den schwarzen Sand der Insel Teneriffa, aber er wird abermals, bei einem Verkehrsunfall, getötet. Stimmen aus dem Himmel oder gar aus dem Grabe - wie ich sie letztlich in der kunstvoll psychologisierten Dreiecksgeschichte »Eine italienische Liebe« von Philippe Besson fand - sind in Literatur und Film längst Legion. Bei Sämann läppert sich das Außerirdische in dem Bemühen, möglichst sämtliche Götter und Gestirne zu erwähnen, etwas hin. Weitaus interessanter ist seine Erzählstruktur zu ebener Erde. Da begeben sich Christa Lobbes, einst Kaderfrau in den BHMW, und Westimport Irina Weiche als sympathisches Lesbenduo auf die Spur von Karolis literarischen Anfängen. Sie vermuten in ihm ein frühes, außerordentliches Genie, das nicht nur Verse, sondern auch eine bisher unauffindbare epochale Geschichte geschrieben habe. Solch kriminalistisches Nachkrabbeln zeigt angesichts heutigen mühseligen Durchboxens vieler Begabungen etlichen Großmut und erinnert fast an die ...

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