Ein »Wossi« aus dem fernen Schwabenland

Wie kommt ein Professor Doktor Bürgermeister in eine sächsische Kleinstadt? Einer, der noch dazu viel von der Erziehungswissenschaft versteht? Porträt eines überzeugten Bildungsreformers

  • Michael Bartsch
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.
Juni 2004. In der Dresdner Innenstadt demonstrieren einige hundert Schüler, Lehrer und vor allem Bürgermeister gegen sture Schulschließungen. Einer, der in ruhigen, klaren Worten für den Erhalt dezentraler Schulstandorte trotz des Schülerrückganges eintritt, fällt unter den Rednern auf. Bürgermeister der westsächsischen Stadt Meerane soll er sein, spricht sich herum. Ein Professor Doktor Bürgermeister sogar, was die Neugier steigert. Im September, zwei Wochen vor der Landtagswahl, ist Lothar Ungerer bei einer Plakataktion auf der Elbbrücke gegenüber dem Kultusministerium wieder dabei. Wieder machen sogar CDU-Bürgermeister ihrer Landesregierung klar, wie schlecht die Stimmung in Bildungsfragen abseits der »Leuchttürme« und Oberzentren ist. Zwei Monate später wird ein selbstkritisches Diskussionspapier des CDU-Landesverbandes die Kritik an der Schulnetzplanung als eine der drei Hauptursachen für das Wahldesaster der Union benennen. Ein Parteibuch besitzt Lothar Ungerer nicht. »Parteiunabhängig, nicht parteilos«, unterscheidet aber der Bürgermeister aus Meerane. Ohne Parteinahme wäre er auch kaum in sein gegenwärtiges Amt gelangt. Wie er dazu kam, ist eine Geschichte für das Bilderbuch der deutschen Einheit, die auch dann noch ungewöhnlich wäre, wenn sie nicht von Ost-West-Aspekten überlagert wäre. Ein leichter schwäbischer Akzent verrät nämlich, dass Ungerer ein »Wossi« sein muss. Tatsächlich hat er in Baden-Württemberg ein Studium als Diplom-Verwaltungswirt abgeschlossen. »Aber eine steile Beamtenkarriere war nicht unbedingt mein Ziel!« Die kam dann über die wissenschaftliche Laufbahn aber doch. Ungerer studierte weiter, Politikwissenschaften, Germanistik und vor allem Erziehungswissenschaften, landete schließlich als Professor an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Schwerpunkte: Europapolitik, Systemtheorie, politische Kommunikation. Letztere sollte elf Jahre später in Meerane noch einmal ganz wichtig für ihn werden. Doch zunächst blickte er als junger 39-jähriger Professor eher misstrauisch auf jene, die aus ihrem Karrierestau plötzlich gen Osten flüchteten. Eingeladen wurde aber auch er ins Beitrittsgebiet, erstmals 1992 von der Europa-Union Thüringen. Später beriet er das Thüringer Kultusministerium, bekam einen Lehrauftrag an der in Gründung befindlichen Erfurter Universität, reiste viel zu Vorträgen in die Ostländer. Unter anderem 1998 an die Sächsische Akademie für Lehrerfortbildung nach Meißen, wo er auf eine Lehrerin aus Meerane traf. Hier werden die Geschichte und ihr Erzähler richtig sentimental. Das »Glück des Lebens« führte also nach Meerane, der Professor reiste von nun an in umgekehrter Richtung zu seinen Lehrveranstaltungen nach Ludwigsburg. Im Jahre 2001 endete dann auch dieses Pendlerdasein. »Ich wollte schon immer mal einen eigenen Wahlkampf entwickeln«, berichtet Ungerer eher wissenschaftlich-nüchtern über das Experiment Kommunalwahlkampf 2001. Zuvor schon in der lokalen Agenda-21-Gruppe engagiert und als Politikberater erfahren, trat er kurzerhand selbst als Kandidat an. Der Selbstversuch endete ziemlich überraschend nicht mit dem erwarteten »achtbaren Ergebnis«, sondern mit sagenhaften 78 Prozent der Wählerstimmen für ihn. »Das Amt war unbedingt anzutreten!« Über Nacht kappte der neue Bürgermeister alle akademischen Verbindungen, schied aus dem Beamtenverhältnis in Baden-Württemberg aus. Kopfschütteln bei manchen Kollegen. Die Vortragstätigkeit seit 1992 habe ihm schon sehr geholfen, die »Seele des Ostens« kennen zu lernen, antwortet er rückblickend auf die Frage nach möglichen Akzeptanzproblemen hier. Nicht alles kann er nachvollziehen, so die zögernde Bereitschaft zur Eigenverantwortung und die Neigung zum Ruf nach dem Staat. Auf die Empathie aber komme es entscheidend an, zumal in der Kommunalpolitik, die den Bürger unmittelbar betrifft. Mit diesem gegenseitigen Verständnis sei viel möglich. »Die Verwaltung gibt auch über die Kultur eines Landes Auskunft.« In den Kommunen werde letztlich auch über die Perspektiven künftiger Generationen entschieden. Wo gibt es da noch Hoffnung? In dem demographisch und wirtschaftlich bedingten Schrumpfungsprozess will der Professor Bürgermeister sich nicht dauernd in der Defensive sehen. Deshalb auch der Aufstand gegen die bildungspolitische Verödung auf dem Land und in den Kleinstädten. »Es war schon ein Novum, dass sich nicht nur Bürger, sondern auch Bürgermeister dagegen wehren.« Wer Ungerers äußerlich unauffälliges Auftreten beobachtet, nimmt ihm sofort ab, dass er bei den Protesten nicht zuerst als Lehrer und Leithammel auftreten wollte, sondern aus tiefer Überzeugung agiert. Dazu gehört das Bekenntnis zu einem Habitat, zu Heimat und regionaler Verwurzelung. Sowohl die Globalisierung als auch die schrumpfende Bevölkerung ließen nur diese eine Alternative zu, auch die Räume abseits der Zentren kulturell zu beleben. Und wer wollte bestreiten, dass Schulen solche kulturellen Zentren sind? »Sie müssen die Schule vor Ort belassen, sonst nehmen sie kleinen Orten die Seele und die Perspektive.« Und den jungen Leuten in diesen Orten das Selbstbewusstsein. Von der CDU-Politik der Konzentration auf große Schulkombinate zur Sicherung von Profilvielfalt und Sachausstattung hält der Erziehungswissenschaftler gar nichts. Nicht nur wegen der belastenden langen Anfahrtswege. Er weiß sich mit Vergleichsstudien einig, die Schulen in vermeintlich schwächeren Räumen keine Nachteile bescheinigen. Da ist er der eigentlich Konservative, wenn er postuliert: »Bildungserfolg ist nicht eine Frage der Größe der Schule, sondern nach wie vor des Unterrichts im Klassenzimmer. Und der bleibt in der Hauptsache eine menschliche und psychologische Angelegenheit.« Eine Umkehr der gegenwärtigen Schulpolitik in Sachsen sei unausweichlich. Daran glaubt Professor Ungerer nicht etwa wegen des eher enttäuschenden SPD-Einflusses in der neuen Koalition. Bevor im März eine neue Runde der Schulschließungen eingeläutet wird, will sich die Bürgermeistergruppe nochmals an die Staatsregierung wenden. Früher oder später werde man jedenfalls den Kardinalfehler einsehen müssen, dass die Lerngruppen einfach zu starr und zu groß sind. Der Bürgermeister versteht nicht, warum man nicht von den durch die PISA-Vergleichstests ja nun hinreichend bekannt gewordenen Erfolgsmodellen lernen will. Das gilt auch für Ganztagsangebote und eine längere gemeinsame Schulzeit. »Ein früh selektierendes Schulsystem, das die soziale Schichtung verhärtet, können wir uns gar nicht mehr leisten. Wir brauchen mehr qualifizierte Schüler!« In der oberflächlichen Diskussion darüber werde verkannt, dass integrierte Schulformen eine Binnendifferenzierung und individuelle Förderung keinesfalls ausschließen, sondern eher verbessern. Einen auch in Sachsen ablesbaren Trend unterstützt der Wahl-Meeraner aber voll. »Mehr Eigenverantwortung für die einzelne Schule!« Nur noch Rahmenlehrpläne wie in den Niederlanden, Italien oder Finnland, ja sogar eine kommunale Personalhoheit kann sich Ungerer vorstellen, um auch die Bindung der Lehrerschaft an ihre Schule zu festigen. Der Spagat zwischen bundesweit wünschenswerten Standards und einer Kleinstaaterei, die auf Länderebene wieder zum Zentralismus führt, werde jedenfalls nicht gelingen. Lothar Ungerer ist als Betroffener zu den Bürgermeisterprotesten gekommen. Meerane hat durch zweimaligen »Mitwirkungsentzug« des Kultusministeriums bei der Bildung fünfter Klassen sein Gymnasium verloren. Das Angebot, mit 20 Prozent kommunaler Beteiligung die erhöhten Kosten für kleinere Klassen mitzutragen, lehnte der inzwischen abgelöste Kultusminister Karl Mannsfeld ab. Die Stadt konnte es unterbreiten, weil die lokale mittelständische Wirtschaft ihr Interesse am Gymnasium in finanzieller Unterstützung ausdrücken wollte. Jetzt fließt das Geld in eine Stiftung, mit der auch sozial Schwachen der Besuch eines freien Gymnasiums ermöglicht werden soll. Dessen Gründung wird gerade gemeinsam mit der Nachbarstadt Waldenburg vorbereitet. Kommunale Netzwerke überhaupt sind für den Kommunalpolitiker Ungerer eine der Antworten auf die Leuchtturmpolitik. »Ich warne davor, die Bedürfnisse der Bevölkerung einfach wegzuwischen«, sagt Ungerer und verweist auf die NPD, die es ...

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