Faust zwischen Drang nach Erkenntnis und Martyrium

In Rostock brachte Tomasz Kajdanski das Ballett »Abraxas« auf die Bühne

  • Kilian Klenze
  • Lesedauer: 4 Min.
Bereits zum zweiten Mal leitet Tomasz Kajdanski, gebürtiger Pole mit der groben Solistenvergangenheit in München, das Rostocker Ballett. Schon in seiner ersten Amtszeit, zwischen 1992 und 1995, bemühte er sich um ein vielfältiges, an den Erwartungen des hansestädtischen Publikums orientiertes Repertoire, das vom »Nussknacker« über »Romeo und Julia« bis zu Johann Kresniks zeitaktuellem Politdrama »Familiendialog« reichte. Nach der eher klassisch ausgerichteten Ära des Bulgaren Itchko Lazaroff kehrte der quecksilbrige Kajdanski, um Choreografenerfahrungen in Coburg und Kiel bereichert, 1999 in die Ostseemetropole zurück. Auch wenn die Tänzermannschaft inzwischen gewechselt hat - das Konzept ihres neuen Leiters ist das gleiche geblieben. Mit »Tritsch-tratsch« zu Melodien von Johann Strauß, »Ein Sommernachtstraum« zu einem Musikmix aus Mendelssohn Bartholdy und Carlos Miranda, mit »Pinguin Café«, »Cinderella« und »Die Kameliendame«, die hauptsächlich Kompositionen von Jules Massenet verwendet, realisierte er seine Form von Tanztheater und vermochte damit die Auslastungszahlen kräftig nach oben zu schrauben - und das trotz dreier Schließtage pro Woche, wie die Haushaltslage des Volkstheaters sie unumgänglich macht. Als »willig« lobt Kajdanski seine aus zehn Nationen stammenden 15 Tänzer, die auch singen und sprechen müssen, so in den Erfolgsmusicals »Jesus Christ Superstar« und, von ihm selbst noch diese Saison choreografiert, »Ein Käfig voller Narren«. Nicht »extravagante Projekte« will er auf die Bühne hieven, sondern das, was Aussicht auf Zuschauer hat, und die möchte er gern auch mit zeitgenössischen Problematiken konfrontieren. Seine jüngste Inszenierung, vom Premierenpublikum euphorisch gefeiert, zielt genau in diese Richtung. Als Koproduktion mit der Bayerischen Theaterakademie August Everding im Prinzregententheater München schufen er und sein Rostocker Ensemble eine neue Inszenierung von Werner Egks Faust-Ballett »Abraxas«. Gegenüber dem prinzregentlichen Münchner Aufführungszyklus kehrte sie nun personell reduziert auf der kleineren Bühne des Volkstheaters ein. Obwohl er die Dramaturgie der Musik »gnadenlos« beibehalten habe, peilte Kajdanski ein »neues Konzept für unsere Zeit« an. Nicht »Aufklärungsarbeit« sei sein Job, sagt er im Gespräch, sondern »Ergänzung, Regenbogen, Spektrum«. Nicht die bekannte Geschichte von Faust habe er mithin erzählen und bebildern wollen, vielmehr ging es ihm um die eigene, heutige Sicht auf das Thema, um »assoziative Situationen«. Frei von jeglicher Aushängung ist deshalb eingangs Dorin Gals bedrückend schwarze Szene, auf der Neonröhren fahlkaltes Licht verbreiten. Riesenfolianten des Goetheschen »Faust« stehen umher, Fallgeschossen gleich schweben lose Seiten über einer Art Buch-Sarg in der Mitte. Grundiert von gesichtslosen grauen Wesen öffnet sich der verspiegelte Sargdeckel, vermummt studiert in seinem Grab-Gehäuse der alte Faust. Als endlich die Musik einsetzt, jagt ein Mann im Trenchcoat einer Frau im Lackledermini hinterher, schwankt wie ein Pendel der Menschenpulk, fährt dann die Folianten fort, um in den herabstürzenden Blättern zu lesen und sie auf Faust zu werfen. In höllenroten Pluderhosen und mit freiem Oberkörper taucht Bellastriga auf, der weibliche Teufel, den Kajdanski mit einem Mann besetzt und der Faust aus seinem Gehäuse in die Welt stößt. Das Verführungsspiel nimmt seinen Lauf, als der Zwitterteufel seine Buhle Archisposa herbeizaubert und auf den Alten loslässt. Liebesverzückt bemächtigt der sich Archisposas Pistole und ballert herum. Rote Vorhänge fahren da dreiseitig herauf und verwandeln die Bühne für den Rest des Abends in ein glutiges Höllenkabinett, in dem sich unvermittelt Fausts Verjüngung vollzieht. Was sich schon im ersten Bild andeutet, wenig geformter Tanz zu Gunsten üppig wuchernder szenischer Gestaltung, das setzt sich in den folgenden vier Akten fort. Keines der Bilder erzählt klar und punktgenau. Erst in der Gretchen-Episode gewinnen die Gestalten Profil, werden nachfühlbare Figuren, erreicht auch der Tanz zwischen dem jungen Faust und seiner Margarete (als die Aurélien Scanella und Ramona Seeck überzeugen) respektive als Doppel-Pas de deux mit Bellastriga und Archisposa (mit Kirsten Tennemann und besonders Jesper Windisch als impulsiven Interpreten) erkennbare Kontur. Wenn am Ende der rückverwandelte eisgraue Erfüllungssucher wieder einsam auf dem multifunktionalen Buch-Sarg liegt und die vermassten Teufelsgehilfen sein Gehäuse in Brand stecken, fühlt man sich gleichermaßen an Röstmartyrium und Bücherverbrennung erinnert. Egks Werkvorgabe hat Kajdanskis Fassung mit ihrem undifferenzierten Bewegungsbrei und den blässlichen Gestalten dennoch keine zeitgemäßen Aspekte abringen können, auch wenn sie sich noch so sehr auf Heines Urlibretto von 1847 beruft.
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