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  • Politik
  • ? Politökonomische Visionen - eines Chemikers

Nur noch Software im Mehrwert?

  • Renate Walter
  • Lesedauer: 5 Min.

Arbeiterklasse und revolutionärer Prozeß in Vergangenheit und Zukunft ist seit dem gesellschaftlichen Umbruch von 1989/90 einer der umstrittensten Diskussionspunkte unter Linken. Nicht ohne Grund, werden doch hier wesentliche theoretische und praktische Fragen - auch für eine künftige sozialistische Gesellschaft - berührt. Alfred Granowski, von Haus aus Chemiker, untersucht zum einen die Rolle der Arbeiterklasse in der historischen Entwicklung und zum anderen als »Schaffer« aller materiellen Werte, des gesellschaftlichen Reichtums; dies vor dem Hintergrund des tendenziellen Verschwindens der Arbeiterklasse oder, weiter gefaßt, der menschlichen Arbeitskraft aus der materiellen Produktion.

Der Autor stützt sich auf die Erkenntnisse von Marx und Engels zur historischen Abfolge der Gesellschaftsformationen, insbesondere zur Ablösung der feudalen durch die bürgerliche Gesellschaft. Er erinnert daran, daß diese Ablösung durch die Entstehung neuer spezifischer Produktivkräfte ausgelöst wurde, durch die ökonomische Vorherrschaft, zu deren Erringung im Rahmen der »alten« Gesellschaft sie ihren Eigentümern verhal-

fen. Er kritisiert die Klassiker, sie wären bezüglich der proletarischen Revolution von diesen Positionen abgewichen, und analysiert sodann die Prozesse, die in der kapitalistischen Gesellschaft seiner Meinung nach zur Herausbildung jener gesellschaftlichen Kraft führen werden, deren Interesse und Fähigkeit den Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft bewirken wird. Dies könnten nur die Kräfte sein, die mit den neuesten spezifischen Produktivkräften verbunden sind. Unter spezifischen Produktivkräften versteht Granowski jene, die eine qualitativ grundlegende Veränderung der Arbeitsweise hervorrufen und diese neue Arbeitsweise zur bestimmenden für die Produktion materieller Güter werden lassen. Diese Veränderung wird von der in alle Bereiche eindringenden Computertechnik und von der mit ihr verbundenen völlig neuen Erzeugnis- und Verfahrensentwicklung ausgehen. Die vorherrschende Arbeits- und Produktionsweise wird die geistig-schöpferische, auf menschlicher Kreativität beruhende sein. Ihr Träger ist die »Klasse der in der Erzeugnisentwicklung und Technologie Tätigen«. Sie wird gemeinsam mit anderen Gesellschaftsschichten, insbesondere mit der »Klasse der Ausgegrenzten« - den infolge fortschreitender Vollautomatisierung von Produktions-, Verwaltungs- und

anderen Prozessen zunehmend »Freigesetzten« - den Kapitalismus überwinden.

Granowski untersucht, wie die neue »Klasse der in der Erzeugnisentwicklung und Technologie Tätigen« ökonomische Machtpositionen erlangt, ihre Interessen gegen privatkapitalistische Bedingungen revoltieren und wie die kapitalistische Produktionsweise ihre Entwicklungsfähigkeit verliert. In diesen Überlegungen steht die Kategorie der »Kreativität« sowie der Raum für ihre Entfaltung im Mittelpunkt. Wenn die kapitalistische Gesellschaft aufgrund vor allem des Niedergangs der Konkurrenz im globalen Maßstab der Kreativität kein weiteres Entwicklungspotential mehr eröffnet, wird sie untergehen müssen.

Granowski widmet sich werttheoretischen Aspekten, um sich der Klärung des Problems zu nähern, daß der Anteil der lebendigen Arbeit am fertiggestellten Produkt rapide sinkt, sie aber im Sinne der Marxschen Arbeitswerttheorie Quelle allen Reichtums ist. Die zwei im Prozeß der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur entscheidenden Momente seien zum einen die menschliche Kreativität, zum anderen die Energie. Die wissenschaftlich-technische Kreativität definiert er als die Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung, die letztliche Ursache der enormen Steigerung der Pro-

duktivität. Über die Einführung der Kategorie der Energie gelingt Granowski eine Präzisierung der Funktionsweise sowohl der lebendigen als auch der vergegenständlichten Arbeit. Sie erlaubt es, die Möglichkeit der Herauslösung der physischen Anwesenheit der menschlichen Arbeitskraft bis hin zu ihrer vollständigen Substitution zu verdeutlichen, wie sie gegenwärtig bei einer wachsenden Zahl von Produktionsprozessen stattfindet. Und genau das ist die entscheidende Frage, vor der die gegenwärtige marxistisch orientierte Politische Ökonomie steht: Wie ist es möglich, die Entstehung des Mehrwertes aus der Funktion der lebendigen Arbeit zu erklären, wenn diese mehr und mehr aus der materiellen Produktion verschwindet? Müßte nicht nach anderen oder gar nach den eigentlichen Quellen des Mehrwertes gesucht werden? Die Quelle des Mehrwerts sieht Granowski gemäß der von ihm der wissenschaftlich-technischen Kreativität zuerkannten Bedeutung in der für die Entwicklung der Erzeugnisse und Produktionsverfahren geleisteten geistig-schöpferischen Arbeit. Dementsprechend gesteht er den Gebrauchseigenschaften einer Ware bei der Mehrwertbildung einen entscheidenden Rang zu. Von diesem Ansatz aus nimmt er eine Neubestimmung der Wertkategorien vor So argumentiert er z. B. bezüglich der Mehrwertrate, daß der Mehrwert (m) nicht mehr auf die lebendige Arbeit bezogen werden könne, wenn die lebendige Arbeit (v) nicht mehr vorhanden ist. Er definiert die Mehrwertrate neu als »Verhältnis des mit einer Ware realisierten Mehrwerts zu dem

Wert der Energiemenge und Software, die für die Produktion dieser Ware verwertet werden«. Andererseits weist er darauf hin, daß der Mensch nicht völlig unabkömmlich ist, nämlich »im Hinblick auf die Bestimmung dessen, was die Energie im Prozeß der Erzeugnisproduktion zu tun hat, und auf die Veranlassung der Energie, dieser Bestimmung nachzukommen«.

Mit den Kategorien Kreativität (Software) und Energieanwendung bietet Granowski einen Ansatzpunkt für die Erklärung der Entstehung von Mehrprodukt und gesellschaftlichem Reichtum unter den neuen Produktionsbedingungen. Man muß Granowski nicht in allem folgen, eine durchgängige Beachtung der stofflichen Seite und der gesellschaftlichen Formbestimmtheit der Kategorien und Prozesse wäre wünschenswert. Seine Neubestimmung der Wertkategorien wird sicher Kontroversen auslösen. Aber gewiß ist eines: Die Stellung der Arbeiterklasse in der materiellen Produktion hat sich grundlegend verändert. Aus ihrer Funktion im Arbeits- und Wertbildungsprozeß ihre revolutionäre Rolle zu begründen, ist nicht mehr möglich. Die Zukunft werden jene Kräfte gestalten, welche die modernen Produktivkräfte in ihrer Entwicklung voranzutreiben vermögen und objektiv gesamtgesellschaftliche Interessen vertreten können und müssen. Granowski hat dazu seine Visionen entwickelt.

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