Avantgarde als Netzwerk

Im Hamburger Ernst Barlach Haus: Die erstaunliche Sammlung Hoh

Private Sammler haben in der Regel ein anderes Interesse als Kunstmuseen. Letzteren geht es um ein objektives Sammeln, weniger um Parteinahme für die eine oder andere Kunstrichtung. Als seinerzeit die Moderne und mit ihr die Avantgarde ins Museum gelangte, trat sie in ein Stadium der Historisierung ein, das den meisten ideologischen Kämpfen und Meinungsverschiedenheiten in der Kunst, zumindest theoretisch, ein Ende setzte: entscheidend war nur noch die Qualität des Kunstwerkes. Von jetzt an wirkte die Moderne eher edel und exemplarisch als nervös und problematisch. Anders der Privatsammler, dem es nicht um das »Ausgewiesene« und »Gültige« geht, sondern der mit mitunter manischer Besessenheit eigene Pfade in das kunstgeschichtliche Labyrinth schlägt. Der in Franken beheimatete Sammler Alfred Hoh und seine Frau haben relativ spät, erst Mitte der 80er Jahre, zu sammeln begonnen, das aber mit einer Zielstrebigkeit und Konsequenz, dass sie eine der bedeutendsten Sammlungen über die Kunst der 20er Jahre zusammengetragen haben. Teile ihrer expressionistischen Skulpturensammlung erhielt das Germanische Nationalmuseum Nürnberg als Dauerleihgabe. Der größte Teil einer der vollständigsten Sammlungen druckgrafischer Mappenwerke des Expressionismus, die Alfred Hoh aufgebaut hatte, ging in den Besitz des Lindenau-Museums in Altenburg über. Was den Sammler Hoh besonders interessierte, war der Stilpluralismus der 20er Jahre, der höchst engagierte internationale Austausch, das Streben der Avantgarde nach einer Stilsynthese. Neben berühmten Künstlern, die in den Museen längst ihren angemessenen Platz haben, enthält seine Sammlung Künstler, die längst vergessen und heute wieder in unser Bewusstsein zu heben sind. Das Ernst Barlach Haus Hamburg zeigt 40 Künstler der europäischen Avantgarde aus der Sammlung Hoh, die den Weg von der Figuration zur Abstraktion gegangen sind. Der Erste Weltkrieg und die Gesellschaften, die ihn hervorgebracht hatten, ekelten sie an. Zudem glaubten sie, dass sie am Ende des kapitalistischen Individualismus und am Beginn einer neuen vergeistigten Weltordnung standen, also wollten sie Internationalisten sein. Ihre Kunst sollte eine Art übernationalen Dialog darstellen, eine Universalsprache wie Esperanto. Mit utopischen Abstraktionen hofften sie die zerstörte Welt wieder zu einer idealen und endgültigen Ordnung zusammenbauen zu können. Ob in Paris, Amsterdam, Mailand, Wien, München, Berlin, Stockholm oder Moskau - überall fand sich die Avantgarde in Gruppierungen und Galerien zusammen. Franzosen, Niederländer, Italiener, Deutsche, Schweden und Russen vereinten sich in der Suche nach einem aus der Farben- und Zeichensprache der Kunst sprechenden, übergreifenden, ganzheitlichen Lebenssinn und im Streben nach Internationalität. Wenn im Zentrum der Ausstellung die berühmte Bildnisbüste Herwarth Walden (1917) von William Wauer steht, dann wird damit auf die Verdienste des Begründers des Berliner »Sturm« als Zeitschrift und Galerie verwiesen. Walden hat seine monatlichen Ausstellungen der »Sturm«-Galerie gekrönt mit dem »Ersten deutschen Herbstsalon« von 1913, der größten Avantgarde-Ausstellung vor dem Ersten Weltkrieg in Europa. Er hat Wanderausstellungen durch Europa geschickt, vor und nach dem Ersten Weltkrieg die zentralen europäischen Kunstrichtungen zusammengeführt und - zunehmend in Richtung Abstraktionismus - ein gemeinsames Weltempfinden entwickelt. Er realisierte den »Sturm« als modernes Netzwerk, die meisten der hier ausgestellten Künstler standen mit der »Sturm«-Bewegung in Beziehung. Im Kontext der expressionistischen Bildhauerei stehen die Bronzeplastiken von William Wauer und Oswald Herzog. Rudolf Bellings »Gruppe Natur« (1918) entstand in der Zeit der »Novembergruppe«, einer heterogenen Berliner Gruppierung, zu der auch Rudolf Ausleger, Oskar Fischer, Oswald Herzog, Johannes Molzahn, Georg Muche oder Karl Schmidt-Rottluff gehörten. Die Dresdner Sezession »Gruppe 1919« hatte einen ähnlich idealistischen und offenen Ansatz: Eine erstaunliche Kraft geht hier von der expressiv vereinfachten Figur des »Blinden Bettlers« (um 1923/24) Christoph Volls aus. Bernhard Kretzschmar, der eine Miniaturbühne aufschlägt, auf der die Agierenden auf- und abtreten, »werden und vergehen« (1920), und Edmund Kesting, der um 1926 konstruktive Bilder mit den Grundformen Kreis und Dreieck schuf,gründeten die »Dresdner Sezession 1932«. Dagegen war der Armenier Leon Tutundjian Mitbegründer der französischen Gruppe »Abstraction-Création« (1931/36), der Mexikaner Angel Zárraga war regelmäßiger Teilnehmer des »Salon d'Automne« in Paris, der Wallone Marcel Lempereur-Haut rief 1924 mit dem Franzosen Félix Delmarle, dem in Paris lebenden Tschechen Frantisek Kupka und dem »De Stijl«-Mitbegründer Theo van Doesburg die Gruppe »Vouloir« ins Leben. In Russland hatte Natalia Gontscharowa gemeinsam mit Michail Larionow den so genannten Rayonismus, eine russische Variante des Futurismus, entwickelt. Ihr auf die Farben Rot, Gelb, Orange, Schwarz und Weiß reduziertes Gemälde »Blumen« (um 1912) entstand in der Zeit, in der sie am »Ersten Deutschen Herbstsalon« in Berlin teilnahm. Dem Kreis der Suprematisten (Gegenstandslosen) gehörte auch Sophia Karetnikowa an, die wie Jules Schmalzigaug, Félix Delmarles, Leo Gestel, Wera Roklinas und Lodewijk Schelfhouts in der Sammlung vertreten ist. Der »Flache Torso« (1914) des seit 1908 im Umkreis der Kubisten in Paris lebenden Alexander Archipenko existiert in zahlreichen Varianten und ist vom Künstler unter dem Leitgedanken der Polychromie und der Konstruktion als Musterbeispiel für das Thema »Torso« entwickelt worden. Zeichenhaft und von manierierter Eleganz ist die Plastik »Buste de Jeune Fille« (1914/17) von Ossip Zadkine, während dessen spätere barockisierende »Hommage à Bach« (1942) eine Apotheose des Schöpferischen versinnbildlichen soll. Auch István Beöthys abstrakte Plastik »Denkmal für einen Flieger« (1931) will Harmonie und Schönheit veranschaulichen und ist dem Rhythmus, der Dynamik und der Logik Bachscher Musik nachempfunden. Das so Erstaunliche der Sammlung Hoh ist, dass hier unter den Leitbegriffen international, interdisziplinär und pluralistisch gerade am Beispiel von zu Unrecht vergessenen, doch höchst qualitätsvollen Künstlern neues, erhellendes Licht auf das noch weitgehend unbekannte Forum de...

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