Chiles langer Weg der halben Schritte

Vor 15 Jahren machte Diktator Pinochet nicht ganz freiwillig den Weg für eine zivile Regierung frei

  • Antje Krüger, Santiago
  • Lesedauer: 6 Min.
Am 11.März vor 15 Jahren übergab der Diktator Augusto Pinochet sein Amt an den frei gewählten Präsidenten Patricio Aylwin. Formal herrscht seitdem in Chile Demokratie. Doch das Erbe der Diktatur spaltet das Land nach wie vor.
Laut aufheulend jagt der Bus Nummer 245 die Alameda entlang, bremst scharf vor dem Hügel Santa Lucía, spuckt Menschenmassen vor der Fußgängermeile Ahumada aus und schlängelt sich durch den dichten Verkehr zum Präsidentenpalast La Moneda. Der weite Platz vor der Moneda wirkt angenehm ruhig nach dem Gewusel auf Santiagos Hauptverkehrsader. Links vom Eingang steht das Denkmal für Salvador Allende. Auf dem Sockel die letzten Worte, die der Präsident 1973 sprach, bevor die Moneda in den Flammen des Putsches aufging: »Ich glaube an Chile und an seine Zukunft.« Der Tote, zum Denkmal geworden, steht noch immer seinem lebenden Widersacher Augusto Pinochet gegenüber. Der Exgeneral ist nicht weniger Sinnbild als er selbst. Beide verkörpern wie niemand sonst in Chile die lange und steinige Suche nach historischer Wahrheit, das Ringen um eine Demokratie, die sich noch immer in den Fängen der Vergangenheit befindet, um eine Zukunft, die immer wieder auf eine der dunkelsten Epochen der chilenischen Geschichte zurückgeworfen wird.
Chiles Weg der Demokratie ist bislang weitgehend ein Weg moralischer Bekenntnisse ohne ernsthafte rechtliche Konsequenzen. Ein Weg der Kompromisse mit denjenigen, die 17 Jahre lang Terror ausübten. Ein Weg voller Tabus, die nun, so scheint es, zu bröckeln beginnen.

Der sperrige Weg zur Demokratie
»Der weitsichtige und couragierte General Cheyre (amtierender Chef der Armee - d.A.) hatte den Mut, ein Menschenrechtsseminar anzubieten.« Ein Menschenrechtsseminar in der Armee. Der Journalist Pablo Halpern spricht in der Zeitung »El Mercurio« von Mut und Courage bei einem Thema, das Selbstverständlichkeit sein sollte. Es sind diese subtilen Kleinigkeiten, die den Grad der Demokratisierung in Chile offenbaren. Das Land lebt noch heute mit der Verfassung, die Pinochet 1980 verabschiedete.
»Solange die Verfassung noch gilt, kann von einer wirklichen Demokratie keine Rede sein. Wir befinden uns noch immer im Übergang und kämpfen mit vielen Fallstricken aus der Diktatur. Die Verfassung sichert der Rechten eine automatische Mehrheit durch die Benennung von Senatoren zu, so dass viele Gesetzesänderungen gar nicht durchkommen«, urteilt Viviana Diaz, Präsidentin der Vereinigung von Angehörigen verschwundener Häftlinge (AFDD). Der Übergang zur Demokratie, die Transition, wurde in Chile vor 15 Jahren als ein Pakt mit den Militärs beschlossen. Die saßen am längeren Hebel und setzten einen umfangreichen Forderungskatalog und eine lange Liste mit Privilegien durch.
Noch heute fungiert die Armee wie ein Staat im Staate. Die seit März 1990 schon zum dritten Mal in Folge regierende Mitte-Links-Concertación für die Demokratie, eine Koalition aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten, verwaltet die Transition. Doch bislang fehlte es ihr an politischem Willen und an Mut, die Überreste der Diktatur abzuschaffen.

»Letztendlich ist diese Demokratie nur eine Demokratie des etablierten Systems«, sagt Gabriel Zoto, der während der Diktatur untertauchen musste und heute vom Ergebnis der Demokratisierung enttäuscht ist. Dabei wird im Dezember zum vierten Mal nach dem Ende der Diktatur ein Präsident frei gewählt. Und so, wie es aussieht, hat wieder eine Sozialistin die größten Chancen. Michelle Bachelet, die erste weibliche Verteidigungsministerin in Lateinamerika, liegt laut Umfragen bislang vorn. Doch noch ist ihre offizielle Kandidatur für die »Concertación« nicht bestätigt, auch wenn sie die beliebteste Politikerin des Landes ist. Sie, deren Vater General Bachelet zu Tode gefoltert wurde und die selbst Gefängnis und Exil hinter sich hat, wird gegen Joaquin Lavín von der rechten Allianz für Chile antreten. Lavín, im Jahr 2000 zum Bürgermeister von Santiago de Chile gewählt und langjähriges Mitglied des Opus Dei, gilt als unumstrittener Führer dieses Bündnisses aus der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) und der Nationalen Erneuerung (RN).
Beide, Bachelet wie Lavín, verkörpern diejenigen Extreme der chilenischen Gesellschaft, die das Land seit über 30 Jahren spalten - die Sozialisten auf der einen Seite und die UDI mit ihrer Unterstützung Pinochets auf der anderen. Doch die Umfrageergebnisse zu Gunsten von Michelle Bachelet sprechen für eine langsame innere Aussöhnung Chiles mit seiner Vergangenheit vor Pinochet. Denn noch vor knapp vier Jahren hatte die Kandidatur des Sozialisten Ricardo Lagos, des heutigen Präsidenten, alte Grabenkämpfe wieder aufflammen lassen. Vor einer zweiten Ära Allende wurde gewarnt, vor Verstaatlichung und Sozialismus. Dass Lagos gewann, wenn auch nur knapp und in einer Stichwahl, zeigt, dass ideologische Vorurteile langsam verblassen. Heute beurteilen knapp 60 Prozent der Chilenen die Regierungszeit von Ricardo Lagos als positiv. Sie rechnen ihm unter anderem an, die drohende Wirtschaftskrise abgewandt zu haben, und begrüßen mehrheitlich die Veröffentlichung des Berichts über die Folter politischer Gegner während der Diktatur (74 Prozent) als einen notwendigen moralischen Schritt, der selbst die Militärs zum Schuldgeständnis zwang.
Trotz dieser Umfrageergebnisse aber ist in Chile ein starkes politisches Desinteresse zu spüren. »Von der politischen Kultur der Straße, die in Chile so wichtig war, ist nichts übrig geblieben. Die wurde in der Transition regelrecht unterbunden. Das heutige politische System bietet kaum Platz für eine alternative Partizipation«, erzählt Mario Garcés, Direktor der Nichtregierungsorganisation ECO (Bildung und Kommunikation), aus eigener Erfahrung. Die Bürgermeisterwahlen im vergangenen Oktober, die als Politbarometer für die kommenden Präsidentschaftswahlen galten, zeigen dies deutlich. So wurden die Wahlen praktisch zwischen der Concertación und der Alianza ausgetragen. Der Anteil anderer Parteien ist gering. Zudem entzogen sich mehr als vier Millionen Chilenen der obligatorischen Wahl oder strichen die Stimmzettel durch. Dabei hatten sich 1988/89 zum Plebiszit über den Verbleib Pinochets im Amt noch 92,2 Prozent aller Wähler eingeschrieben. Nun waren es im Oktober nur noch 77 Prozent. Viele hatten zum Wahlwochenende eine Fahrt ins Ausland gebucht. Denn wer nachweisen kann, mehr als 300 Kilometer vom Wahlort entfernt gewesen zu sein, wird vom Urnengang befreit.
Derweil gehen die Prozesse um Chiles Militärs weiter. Insgesamt sind 356 Anklagen wegen Menschenrechtsverletzungen in der Diktatur erhoben worden. Erste Durchbrüche sind nun zu verzeichnen. So verbüßt die Führungsriege des Geheimdienstes DINA seit Februar verschiedene Haftstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren wegen des Verschwindens des politischen Gefangenen Miguel Angel Sandoval Rodríguez im Jahre 1975. Und auch Pinochet selbst muss sich weiterhin in drei Prozessen verantworten. Doch kaum sind die Prozesse in Gang, wird schon wieder die Bremse gezogen. Das Oberste Gericht hat nun eine Frist von sechs Monaten festgelegt, in denen die Voruntersuchungen bei Verfahren zur Diktatur abgeschlossen sein müssen.

Wenn die Justiz unabhängig wird
»Wir hoffen, dass die Prozesse jetzt nicht durch die Frist verhindert werden. Wir befürchten, dass sie den Militärs in die Hände spielt. Die Frist wäre kein Problem, wenn die Gerichte schon zur Zeit der Diktatur Menschenrechtsverletzungen verfolgt hätten. So aber fangen die Ermittlungen überhaupt erst an und dafür kann eine Beschränkung auf ein halbes Jahr fatale Folgen haben«, sagt Viviana Diaz von der AFDD und fügt hinzu: »Trotzdem sind wir zufrieden, dass unser Kampf endlich Ergebnisse bringt. Sie zeigen: Wenn es einen Willen in der Justiz gibt, ist Gerechtigkeit auch möglich.« Ein Wille, der heute mehr als alles andere in Chile Ausdruck für einen weiteren Schritt in der Transition 15 Jahre nach dem Ende der Diktatur ist.
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