Der gegen den Schmerz kämpft

Die Antikriegsbibliothek (3): »Der wahre Mensch« von Boris Polewoi

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.
Bücher sowjetischer Schriftsteller waren in der DDR begehrte Mangelware. Einige zumindest. In den 80er Jahren Daniel Granins »Der Platz für das Denkmal« und »Das Gemälde« oder Aitmatows »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« und »Die Richtstatt«, oder auch die Stücke von Schatrow. Einer gehörte ganz gewiss nicht dazu: Boris Polewoi. Der wurde ungefähr so viel gelesen wie Eduard Claudius »Menschen an unserer Seite«: also eher gar nicht mehr. Selbst das »Lexikon fremdsprachiger Schriftsteller« (Leipzig 1981) leistet sich eine sonst eher unübliche Distanzierung und spricht vom »hohen Pathos des Sowjetmenschen« bei Polewoi. Manche sagen, Polewoi war einfach ein Stalinist, der auftragsgemäß seine Lobeshymnen sang. Aber das verkennt den Reiz dieser Bücher, die ich immer mit einem schwer erklärbaren Entzücken las. Polewoi, das war für mich doch eher Karl May als sowjetamtlich. Freilich, Karl May konnte gar nicht anders als Geschichten bis an den Punkt zu treiben, wo ihm niemand mehr glauben mochte, der einigermaßen seine Realitätssinne beisammen hatte. Aber Polewoi hat sich bestimmt immer selbst geglaubt, denn so viel Enthusiasmus kann man gar nicht heucheln. Wegen dieses Enthusiasmus bin ich ein Polewoi-Leser, der ihm (fast) alles zu glauben bereit ist.
»Der wahre Mensch« erzählt die Geschichte eines Fliegers, der während eines Luftkampfes mit einer deutschen Maschine abgeschossen wird, seine Beine verliert und dennoch - mit Prothesen - wieder ins Jagdflugzeug steigt und nun noch wütender eine feindliche Maschine nach der anderen abschießt. Der Prawda, als deren Kriegs-Korrespondent Polewoi schrieb, war die Geschichte (ursprünglich eine Reportage) nicht geheuer und sie ließ sie ungedruckt. Wahrscheinlich machte man sich da strategisch-taktische Gedanken, auf die der geradlinige Polewoi gar nicht gekommen wäre, etwa in der Art: Will die Sowjetunion den Krieg etwa mit Krüppeln gewinnen, haben sowjetische Helden keine Beine? Da schrammte Polewoi, der doch nur Patriotismus rühmen wollte, knapp am Vorwurf vorbei, ein Defätist zu sein. Von da zur Verhöhnung der Roten Armee wäre es nur ein kleiner Schritt.
In seinen Erinnerungen »Die Reportagen meines Lebens« hat Polewoi beschrieben, wie »Der wahre Mensch« dann doch noch entstand. Erst nach dem Krieg, als Polewoi für fast ein Jahr Korrespondent bei den Nürnberger Prozessen war. Da strömte die Geschichte, die ihm der Flieger Meresjew Jahre zuvor erzählt hatte, nur so - in neunzehn Tagen! - aus ihm heraus. »Der wahre Mensch« wurde zur nächtlichen Gegentherapie zum Prozessalltag, wo im nüchternsten Ton die schrecklichsten Verbrechen verhandelt wurden: »Ja, er und solche wie er waren es, die jenes geheime Potential der Sowjets ausmachten, das den Nazis ein Rätsel geblieben war.«
Im April 1946 schickt Polewoi das Manuskript an die Moskauer Zeitschrift »Oktjabr«. Jetzt druckt man es, Hunderte Auflagen erscheinen. Prokofjew macht eine Oper daraus, ein Film wird gedreht - das Buch ist Balsam für die Seele einer geschundenen Nation, die nun erst, nach dem Sieg, den Preis dieses Sieges zu spüren beginnt. Nicht nur die Toten, auch die vielen Invaliden! Da wirkt »Der wahre Mensch« plötzlich ganz anders und bei Wiederlesen spürt man es.
Es ist vor allem ein Dokument des Schmerzes, des Leidens des Einzelnen im Krieg. Die ersten sechzig Seiten lang gibt es im Buch nur den halbtoten Flieger Meresjew, mit zwei gebrochenen Beinen allein mitten im Wald. Erst humpelt er, dann kriecht er nur noch halb bewusstlos. Als erstes will ihn ein hungriger Bär fressen (den er tötet), dann schleppt er sich unter Qualen jeder Art voran, ernährt sich von Beeren, erlegt einen Igel, den er roh verschlingt, und isst händeweise Ameisen. Da ist - medienzynisch gesprochen - ein bisschen viel Dschungelshow, aber Meresjew ist dabei doch zuerst ganz ein der Natur ausgelieferter Mensch, nicht siegreicher Sowjetheld. Sein Kampf ist der ums nackte Überleben. Auch der Verlust seiner Beine, das drohende Ausgegrenzt-Werden als Invalide, seine große Angst, all das ist ganz und gar unheroisch erzählt.
Ein Mensch kämpft darum, trotz schwerster Behinderung an seinen Platz zurückzukehren. Er will nützlich sein, das heißt im Krieg: Kämpfen. Da tritt der Mythos hervor, der Mensch ist Mensch, wenn er kämpft. Aber beim Lesen fragt man sich, welchen Kampf führt er denn? Es ist ja tatsächlich ein komischer Held, so auf Krücken und Prothesen, ganz jedes Heldenklischee zerstörend. Kein strahlender, sondern ein schwer beschädigter Held. Einer, der Sinnbild wird dafür, was von jedem Kriege bleibt: Tote und Invaliden. Die dann einen heroischen Kampf mit dem Alltag führen, den niemand sehen will. Erst wenn der Invalide unwahrscheinlicherweise wieder Kampfpilot wird und spektakuläre Abschüsse vorweist, dann zählt er wieder mit.
Ich weiß nicht, ob es Polewoi gewollt hat, oder ob es sich als ungewollter Effekt einstellte, aber die Millionen Leser von »Der wahre Mensch« wollten nach dem Krieg wohl weniger etwas von ruhmreichen Flugzeugabschüssen lesen, als darüber, wie sich jemand, der diesen Krieg als Invalide überlebt hat, in den Alltag zurückkämpft. Die Selbstüberwindung des Menschen, der »Übermensch«, von dem Nietzsche spricht, hier ist er zu sehen. Aber nicht in seiner Fehldeutung als siegreich strahlender Held, sondern schwer verletzt, gebrochen und dennoch mit dem Mut, weiterzuleben. Diese Selbstüberwindung, die man heldisch nennen kann, wenn man keine Angst vor dem Wort hat, ist etwas, das sich tagtäglich unspektakulär ereignet. Es ist nicht der einmalige Showeffekt für die Kameras.
Das lässt sich an diesem Buch, das gewiss viele Mängel hat, immer noch lernen. Der wahre Mensch ist kein höherer Mensch, erst recht kein geborener Kriegsheld, er bleibt verletzlich und sein Leben verliert er nur einmal. Fürs Vaterland zu kämpfen und zu sterben, ist nicht süß, sondern bitter und endet auf dem Friedhof oder im Rollstuhl. Fast nie werden Beinamputierte wieder Kampfflieger. Auch so kann man Polewois Kriegsbefund lesen.

Der Roman »Der wahre Mensch« von Boris ...

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