Held und Totengräber

Vor 20 Jahren: Michail Gorbatschow wird letzter Generalsekretär des ZK der KPdSU

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.

Auch und vor allem in der DDR wurden mit der Wahl von Michael Sergejewitsch Gorbatschow zum KPdSU-Generalsekretär große Hoffnungen verknüpft - in unterschiedlichen Kreisen, aus konträren Interesse. Unser Autor, Historiker in Berlin, erinnert:

Als am 10. März 1985 Generalsekretär Konstantin Tschernenko starb, hatten sich die Sowjetbürger an retuschierte Krankenbilder und kurze Amtszeiten ihrer ersten Männer gewöhnt. Erst Leonid Breshnews langes Siechen, dann ein todkranker Juri Andropow, schließlich der blasse Apparatschik. Schon vor Breshnew war Chefideologe Michail Suslow gestorben, später Marschall Dmitri Ustinow. Im Land sah es nicht gut aus, die jahrelange wirtschaftliche Stagnation schlug sich in Versorgungsmängeln nieder, das Erdöl brachte immer weniger Devisen, die wissenschaftlich-technische Revolution fand für die meisten Wirtschafts- und Lebensbereiche nicht statt. Seit vier Jahren ein trostloser Afghanistan-Krieg und dank Ronald Reagan ein Rüstungswettlauf, in dem trotz massiver Versuche die UdSSR kaum mithalten konnte. Das Land wie der Ostblock steckten in einer Krise, was kein Politiker wahrhaben, gar aussprechen wollte. Nur eine Revolution könnte den Sozialismus noch retten.

Mann von Format
Diesmal ging es schnell, schon am nächsten Tag entschied das Politbüro, und das ZK nickte dazu: Ein neuer Generalsekretär, der jüngste aus der fast durchgängigen Greisenrunde - Michail Sergejewitsch Gorbatschow, einst Stawropoler Gebietssekretär, seit 1978 in Moskau Landwirtschaftssekretär, zuletzt faktisch 2. Sekretär. Relativ jung, sich volksnah gebend, problemorientierter Denker. Seine Politbürogenossen bescheinigten ihm: »Er ist ein Mann von Format.« (Konstantin Russakow) »Er hat große Reserven an geistiger und körperlicher Kraft.« (Jegor Ligatschow) KGB-Vorsitzender Viktor Tschebrikow: »Die Tschekisten haben mich beauftragt, den Genossen Gorbatschow, M.S., für das Amt des Generalsekretärs vorzuschlagen... Und die Stimme der Tschekisten ist die Stimme des Volkes.«
Bei den Verbündeten, auch bei Erich Honecker, stieß die Wahl auf Zustimmung. Endlich wurde wieder entschieden. Gorbatschows Maxime »So kann es nicht weitergehen!« wurde gerne gehört, denn eine Supermacht, die zusehends verfiel, war auch für die Verbündeten prekär.
Seit dem regulären April-Plenum 1985 wurde Gorbatschow trotz hartem Widerstand in der Partei zum »Revolutionär von oben«, er benannte Schwachpunkte und Schwierigkeiten. Er prägte Losungen, die Lösungen verhießen: Uskorenie - Beschleunigung der Wirtschaftsentwicklung, Glasnost - Offenheit, schließlich Perestroika - Umbau, »Demokratie, die das Land wie Luft zum Atmen braucht«, den Wandel der KPdSU. Gleichzeitig zog er mit einer Abrüstungsoffensive und später auch dem Truppenabzug aus Afghanistan Konsequenzen aus der Interdependenz der Welt, der tödlichen gegenseitigen Bedrohung, der sich abzeichnenden eigenen Niederlage in der Systemauseinandersetzung.
Für die Verbündeten wurde Gorbatschows Ansatz einer antistalinistischen Revolution und einer zunächst als Rückkehr zu Lenin, besonders dem späten Lenin mit NÖP, Eigentumspluralismus und Markt, und einer nicht administrativ gesehenen Hegemonie der KP zum Anreiz, die blutleer gewordene Sozialismus-Idee wiederzubeleben. Erstmals war die Führungsmacht vom Reformvirus befallen, und die proklamierte »Freiheit der Wahl« bot ihnen nach dem Ende der Breshnew-Doktrin die Chance eigenständiger Reformen für mehr Demokratie, Pluralismus, Markt.

Gorbi, Gorbi, hilf!
Aber nicht alle sahen dies als Glücksfall. Mit dem 27. KPdSU-Parteitag 1986 begriffen Honecker und Gleichgesinnte, dass der neue Wind aus Moskau die eigene Macht in Frage stellen musste. Nicht die größere Effektivität des Sozialismus sahen sie, sondern - recht hellsichtig -, dass der angestrebte Umbau generell die Machtverhältnisse zum Wanken bringen würde. Für viele DDR-Bürger, SED-Mitglieder und die sich formierende Opposition waren die Perestroika und die Person Gorbatschow Hoffnungsfunken eines demokratischen Sozialismus. Folgerichtig musste die massive Abgrenzung von Moskau, der Tapetenvergleich Kurt Hagers und die Parteinahme für die Konservativen die Distanz zur SED-Führung verstärken. Allerdings, ab 1988/89 wurde gesehen, dass die Perestroika aus dem Ruder lief, die Losungen nicht zu tragfähigen Konzepten wurden, Reformen stalinistisch auf den Weg gebracht wurden, Wirtschaftsprobleme das Land lähmten und soziale Konflikte sich im Kaukasus wie im Baltikum in nationalen Konflikten entluden, in denen Gorbatschow oft undemokratisch agierte. Trotzdem waren Demokratisierung, neue Offenheit, das Diskutieren von Tabus - besonders zu Stalin -, ebenso wie die sichtbare internationale Entspannung Pluspunkte für sein Ansehen. Kein Wunder, dass im Herbst 1989 sein Besuch - ähnlich wie schon in Peking - für die Opposition wie für viele Bürger Anlass zu Hoffnungsrufen »Gorbi, Gorbi« und »Gorbi hilf!« wurde.

Kein Zimmer frei
Das neue Selbstbewusstsein der Bürgerbewegungen und der etwas nachdenklicheren Teile der SED half - wie schon in der UdSSR - alte Strukturen zu zerstören. Ebenso wie dort versagten sie beim Ausfüllen der allgemeinen Vorstellungen einer Revolution für einen demokratischen Sozialismus. Und sie erlebten einen Gorbatschow, der Verbündete, Freunde im Machtkalkül umstandslos fallen ließ. Beschwor er noch Egon Krenz im November und später nach dessen Sturz Gregor Gysi, die DDR zu halten und seiner Perestroika nachzueifern, so hatte er sich hinter ihrem Rücken längst in das Unvermeidliche gefügt, den zweiten deutschen Staat zur Verhandlungsmasse erklärt. Seine Absage an den Kalten Krieg beim Gipfel in Malta am 2. Dezember 1989 war das Eingeständnis der Niederlage. Der Rückzug aus Osteuropa war nur folgerichtig. Die Genossen der SED-PDS konnten nur vergeblich auf eine Goodwill-Tour ihres Idols Gorbatschow hoffen. Das »europäische Haus« hatte kein Zimmer für die DDR.
Gorbatschows Platz in der Geschichte ist sicher umstrittener, als er es wahrhaben möchte. Weder die Vaterschaft für die Einheit noch die Beerdigung des (stalinistischen) Kommunismus bereiten ihm ungeteilte Freude. In Russland erinnert man sich nur an den Zerstörer der Supermacht, bestenfalls an einen Reform-Versager. Sympathien hat er allein noch im Westen, der ihm die Zerstörung des Konkurrenzsystems dankt. Er konnte einreißen, konnte auch im Großen und Ganzen den friedlichen Verlauf dieses größten Umbruchs seines Landes nach der Oktoberrevolution leisten. Sein Werk endete in demokratischen Freiheiten, dem Zusammenbruch des Sozialstaates, in einer »Demokratur« anstelle Parteiallmacht, in einer deklassierten Großmacht, die wie stets nur auf ihre Rohstoffe zählen kann - im Kapitalismus.
Als Mensch verlor Gorbatschow auch unter einstigen Bewunderern. Wer heute schwadroniert, dass schon immer sein »Lebensziel die Zerschlagung des Kommunismus« gewesen sei, wer in bayrischen Bierzelten in der Bodenreformfrage seine eigene Politik verleugnet, kratzt an seinem Erinnerungsbild.

Logik und Tragik
Einer seiner engsten Mitarbeiter, das total gewendete Politbüromitglied Alexander Jakowlew, bilanziert: »Jede Reformation muss damit rechnen, dass ihr Ansinnen etwas Vorläufiges bleibt und in vielem zurückgewichen wird. Das Leben hat sein Tempo und eine Logik in der Konsequenz der Ereignisse. Es hält Launen bereit und beleuchtet Tragiker und Komiker, Märtyrer, Helden und Totengräber. So geschah es auch hier.« U...

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