Die geheime Explosion

Sensation: Rainer Karlsch über Hitlers Atombombe

Die entscheidende Frage lautet: gibt es in der Geschichte den Indizienbeweis? Daran schließt sich die weitere Frage an: Ist Rainer Karlsch in »Hitlers Bombe« ein solcher Indizienbeweis seiner Behauptung gelungen, es habe in der Endphase des Zweiten Weltkriegs zwei »erfolgreiche« deutsche Kernwaffentests gegeben. Neben diesem sensationellen Aufmacher hat das Buch auch einen seriösen und einen spannenden Teil. Seriös sind die sehr verdienstvolle Darstellung der Geschichte der deutschen Atomforschung während des »Dritten Reiches« und die Aufarbeitung der zwischen effizienten Kommandostrukturen und chaotischen Rivalitätsverhältnissen schwankenden Kriegsrüstungspolitik der Nazis. Eine gute Zusammenfassung bekannter und teilweise vom Autor selbst herausgefundener Details zu einer Gesamtansicht der Atomrüstung der bis zum Untergang hochaggressiven Nazidiktatur. Der spannende Teil des auch in seinen naturwissenschaftlichen Passagen gut lesbaren und verständlichen Buches schildert den Wettlauf der zunächst nur mit halber Kraft betriebenen deutschen Atomrüstung mit der (zumeist von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland betriebenen) der Amerikaner und vor allem in der Endphase des Krieges mit den näher rückenden Bodentruppen der Alliierten. Kleine Unsicherheiten des ja nicht naturwissenschaftlich ausgebildeten Autors in der Terminologie (wenn er z.B. die Begriffe »Isotop« und »Verbindung« im Zusammenhang mit Deuterium und Tritium verwechselt) sind nicht gravierend. Der gelegentlich zu vernehmende Nebenton, als stünde der Autor auf der Seite des im Wettlauf Zurückliegenden, irritiert etwas, ist aber wohl dem Spannungsaufbau geschuldet. Karlsch will nicht etwa Sympathie für die Nazis wecken, er beschreibt die Angst der Nazi-Größen selbst vor der militärischen Antwort auf den Einsatz einer deutschen nuklearen »Wunderwaffe«. Die eigentliche Sensation des Buches sind die behaupteten deutschen Atomversuche auf Rügen und in Thüringen. Das erste Ereignis datiert der Autor auf den 12. Oktober 1944. Ausgangspunkt für die weiteren Recherchen waren die seit langem bekannten Berichte des Kriegsberichterstatters des »Corriere della Sera«, Luigi Romersa, der zu Propagandazwecken für Mussolini aus Deutschland berichtete und zu einer streng geheimen »großen Explosion« auf der Halbinsel Bug geführt wurde. Karlsch gelangt nach Auswertung der von ihm veranlassten Bodenproben von Physikern aus Gießen und Geologen aus Heidelberg zu dem Ergebnis: »Am 12 Oktober 1944 wurde auf Rügen eine kleine Kernwaffe getestet.« Sie sei von einer separat forschenden Gruppe der Kriegsmarine um Fritz Houtermans, Pascual Jordan und Otto Haxel entwickelt worden. Einige der häufig wiederkehrenden Namen werden am Schluss des Buches in Kurzbiografien näher erschlossen. Die Lebensläufe führen in die Sowjetunion und nach Amerika, in die BRD und DDR. Das zweite - von Karlsch als Kernwaffentest interpretierte - Ereignis fand am 3. März 1945 gegen 21.20 Uhr auf dem Gelände des nahe Arnstadt gelegenen Truppenübungsplatzes Ohrdruf in Thüringen statt. Hier ist die Quellenlage anders: Die Zeugin Cläre Werner hatte schon 1962 in der DDR von einer riesigen Explosion an diesem Tage und von Symptomen an den Tagen danach berichtet. Ihr wurde damals nicht geglaubt. Der Fernsehjournalist Heiko Petermann, mit dem Rainer Karlsch zusammen recherchiert hat und dessen Fernsehfilm über »Hitlers Bombe« in Kürze im ZDF ausgestrahlt wird, interviewte Frau Werner 1999 erneut und glaubte ihr. Ein anderer Zeuge, Heinz Wachsmut, berichtete, dass er am nächsten Tag Scheiterhaufen zum Verbrennen entsetzlich entstellter Menschen errichten musste. Karlsch rechnet auf 450 bis 700 Tote hoch. Cläre Werner erinnert sich noch an einen zweiten schwächeren Test am 12. März 1945. Dazu passt ein Fund in sowjetischen Militärarchiven. Der Geheimdienstbericht vom 23. März 1945 spricht von »zwei großen Explosionen in letzter Zeit in Thüringen«, bei denen »vom Zentrum der Explosion Bäume bis zu einer Entfernung von 500 bis 600 Metern gefällt« wurden. Außerdem gebe es eine Archiveintragung »Film über den Start einer V 2 und die Explosion einer Atombombe« in einem bis heute unzugänglichen russischen Bestand. Alles das reicht nicht, um die Geschichte der deutschen Atomrüstung umzuschreiben. Das wussten auch der Autor und sein ZDF-Kollege. Deshalb haben sie auf Rügen und - besser dokumentiert - in Thüringen u.a. von Strahlenwissenschaftlern der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig Bodenproben nehmen lassen. Die festgestellten erhöhten Werte der radioaktiven Isotope Cäsium 137, Kobalt 60 und Uran 238 liegen, relativiert der Autor korrekt, »teilweise an der Grenze der Nachweisbarkeit und lassen nur in ihrer Gesamtheit Aussagen zu«. Ergänzt werden die Bodenproben durch die Auswertung von amerikanischen Luftbildaufnahmen, die den Hypothesen des Autors ein weiteres Maß an Wahrscheinlichkeit beisteuern. In »Hitlers Bombe« gelingt Karlsch der Indizienbeweis für seine Thesen nicht. Denn dazu gehörte eine Diskussion der Glaubwürdigkeit der Zeugen, eine genauere Erörterung des Schweigens der Beteiligten und weitere gutachterliche Stellungnahmen. Immerhin ist das Fenster zu weiteren Untersuchungen aufgestoßen - das ist das Verdienst...

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