Blick auf den erotischen Körper
Die Schirn Kunsthalle offenbart »Die nackte Wahrheit« der Wiener Moderne um 1900
Nuda Veritas« (Nackte Wahrheit) heißt ein Bild von Gustav Klimt, des Hauptmeisters des Wiener Jugendstils, aus dem Jahr 1899. Die personifizierte Wahrheit ist eine nackte, rothaarige Frau, anstößig und verworfen wie eine Femme fatale, aber auch verführerisch wie die biblische Eva. Sie hält dem Betrachter einen Spiegel entgegen. Es handelt sich um eine Umdeutung des Sündenfalls. Denn ihr zu Füßen liegt die überwundene Schlange. Die moderne Eva wird nicht mehr von Schuldgefühlen heimgesucht, sondern an ihrer Stelle hat der Betrachter Schuld zu fühlen, wenn er sich nicht von der Anziehungskraft dieser Wahrheit bezaubern lässt, wenn er sich weiterhin von einer leicht eingängigen Kunst leiten lässt. Noch skandalöser als dieses Bild erschienen den Wiener Zeitgenossen die 1902 erstmals ausgestellten »Goldfische«, drei nackte, vom Bildrand angeschnittene Frauenleiber mit ebenfalls langen, roten Haaren, die sich spielerisch wie in einem Aquarium bewegen. Der unterste Frauenkörper streckt dem Betrachter das Gesäß entgegen und schaut ihn dabei über die Schulter - seiner Verführungskunst gewiss - direkt an. Der männliche Betrachter soll sich mit seinem voyeuristischen Blick wie ertappt fühlen. Die Frau hat ihren erotischen Sieg über den Mann davongetragen.
Im Kampf der Wiener Moderne gegen die zur Hohlheit und Phrasenhaftigkeit verkommene Kunst spielte die obsessive Beschäftigung mit dem nackten Körper eine wesentliche Rolle. Der verführerische, aber auch der abstoßende Körper wurden zum Fixpunkt eines öffentlichen Bewusstseins. Mit der Entschleierung des Körpers ging die analytische Zergliederung des Seelischen einher, der Körper wurde zur Projektionsfläche innerster Empfindungen und Leidenschaften. »Grenzerkundungen« schlossen die Darstellung des Liebesaktes, des Kampfes der Geschlechter ebenso ein wie Homosexualität, Masturbation oder Androgynie. Diesen besonderen Aspekt - »Die nackte Wahrheit« - will die Schirn Kunsthalle Frankfurt(Main) in Zusammenarbeit mit dem Leopold Museum Wien in einer großen thematischen Schau mit insgesamt 180 Werken veranschaulichen. Sie enthält sowohl Meisterwerke von Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka, aber auch weniger bekannte Künstler und Arbeiten aus dem Wien des Fin de Siècle.
Man versteht heute Klimt als Inbegriff des Aufbrechens einer neuen Kunstvorstellung. Was sich mit ihm wandelte, war mehr als nur ein Formproblem oder eine Stilfrage. Es war die Grundeinstellung zur Welt. Klimt stand bereits im Zenit des Erfolges als arrivierter, mit öffentlichen Ehren bedachter Künstler, als er kompromisslos seinen neuen künstlerischen Weg einschlug. Mit seinen Fakultätsbildern für die Universität Wien hatte er sich von der traditionellen allegoriegebundenen Verkleidung des Nackten gelöst und menschliche Leiber in ihrer fleischlichen Beschaffenheit gemalt. Doch nirgendwo kann man den Wandel dieser Zeit um 1900 so hautnah verfolgen wie beim Vergleich der Frauen-Zeichnungen von Klimt, Schiele und Kokoschka. Hier vollzieht sich die Ablösung der Generationen geradezu vor unseren Augen. Hatte Klimt noch mit der Vibration jeder Linie der hinreißend erotischen Schönheit seiner Modelle in einer geradezu jubelnden Lebenslust nachgespürt, so war die sexuelle Macht des Körperlichen bei Schiele zur peinigenden Libido geworden. Kokoschka wiederum stellte in den Illustrationen zu seinem Stück »Mörder, Hoffnung der Frauen« die exzessive Hassliebe zwischen Mann und Frau dar, in die Lieben und Töten mit eingeschlossen sind. Die nackten Körper sind mit Tätowierungen versehen, die Nervenlinien, Muskel- und Sehnenstränge darstellen sollen.
Gegenüber der Transparenz und gleitenden Schwerelosigkeit im Duktus von Klimt überträgt die Handschrift von Schiele verstärkt emotionale Inhalte. Zunächst von Klimt geprägt, steigert Schiele um 1910 die Linie zu einem fast dramatischen Ausdrucksträger. Zeigt sich bei Klimt die Figur in einer scheinbar lauernden und lockenden Entspanntheit, so präsentiert Schiele die weibliche Figur weitaus aggressiver. Die Linie unterstreicht bei Klimt in ihrem weichen Fließen weibliche Sinnlichkeit, bei Schiele verstärken härter auf das Papier gesetzte Striche die Dualität zwischen aktiver Hingabe und passivem Hinnehmen.
1910 stellte sich Schiele schreiend, mit übergroß, schmerzhaft aufgerissenem Mund dar, schräg in der Bildebene, in jener zerklüfteten und doch so korrekten Umrisslinie, die die Handschrift des Künstlers fast von Beginn an prägte. Seine verformten und nackten Selbstbildnisse, die einen Zug zum Exhibitionismus nicht verleugnen, spiegeln panisches Entsetzen und an Hysterie grenzende Existenzangst wider. Niemand anders hat den Schrei der Zeit, den Schrei der Vereinsamung und Verzweiflung, die Widersprüche und seelischen Spannungen vor und während des Ersten Weltkrieges so eingefangen wie Schiele. Er war das Enfant terrible des Wiener Kunstlebens, seine Arbeiten wurden als »Auswüchse eines kranken Gehirns« oder als Karikaturen angesehen, er wurde sogar zu Gefängnishaft verurteilt, weil die erotischen Zeichnungen in seinem Atelier »Jugendlichen zugängliche Pornografie« seien. Die nackten Körper wirken in ihrer Hässlichkeit durch die unnatürlich verkrampften Stellungen und die brutale Betonung der Geschlechtsteile noch heute schockierend auf den Betrachter. Schiele »enthäutete« gleichsam seine Figuren auf beängstigende, bedrohliche Art, er suchte mit Hilfe »klinischer Befunde« einen synonymen Ausdruck für Seelenzustände zu gewinnen. Tragische Vereinsamung und Isolierung bleiben vorherrschend, die auch körperliche Umarmung zwischen Mann und Frau oder zweier Frauen nicht zu überwinden vermag. Leben und Tod, Sehnsucht und Traum sind untrennbar miteinander verbunden.
Als Beispiel expressionistischer Selbstinszenierung präsentierte sich Kokoschka 1910 in einem Plakatentwurf für die Berliner Zeitschrift »Der Sturm«: Er zeigt ihn wie einen Zuchthäusler mit kahl geschorenem Schädel und mächtigem, vorgeschobenem Unterkiefer. Mit der Linken verweist er, den Leidensgestus Christi konterkarierend, auf die klaffende Wunde in seiner Brust. Ablehnung und Selbstbehauptung hat Kokoschka hier verarbeitet. Verschlingend, narzisstisch und zu einem hemmungslosen Fortissimo gesteigert, stellte er seine Liebesbeziehung zu Alma Mahler, der Witwe des Komponisten Gustav Mahler, in seinem berühmten Bild »Die Windsbraut« (1914) dar. Beide schweben durch die Lüfte - wie Dantes Liebende im Sturm. Nach dem Zerbrechen dieser Liebe hatte er sich als Fetisch eine Puppe anfertigen lassen, die seiner einstigen Geliebten ähnlich sein sollte. Mit dieser Puppe stellte er sich 1922 als Ankläger dar, mit der Hand auf das Geschlecht der Puppe weisend, während die wie lebend wirkende Puppe ihre Hände schuldbekennend über die Brust gelegt hat.
Elena Luksch-Makowsky, seit 1900 erstes weibliches Mitglied der Wiener Secession, erhob in ihrem Bild »Adolescentia« (1903) das sexuelle Erwachen Jugendlicher zum Thema. Ein junges Mädchen hat sich aus der Gruppe ihrer männlichen Spielgefährten gelöst und bietet sich noch ungelenk den Blicken der Knaben wie des Betrachters dar. Anton Kolig dagegen feierte die Schönheit und Sinnlichkeit des jungen, nackten Männerkörpers, den er einzeln und paarweise, liegend von vorn und von hinten darstellte. Doch an der Psyche der Modelle war er nicht interessiert. Als Kriegsmaler ließ er 1917 einen »Verwundeten« mit hochgewinkeltem rechten Arm erotisch posieren, ohne der im Titel bezeichneten Verletzung irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Richard Gerstls »Selbstdarstellung als Halbakt vor blauem Hintergrund« (1905) zeigt sich in überirdischer Helligkeit wie ein auferstandener Christus. Dagegen hat sich Max Oppenheimer auf dem Plakat für sein deutsches Ausstellungsdebüt in München 1911 - ähnlich Kokoschka - als blutender Schmerzensmann Christus dargestellt.
Wie Klimt, Kokoschka, Schiele oder Sigmund Freud glaubte auch der Architekt Alfred Loos, dass die Kunst vor allem Ausdruck der Libido sei. Er kämpfte gegen das Ornament, trat für »Nacktheit« und Askese in der Architektur ein - und ein Resultat ist sein Haus am Michaelerplatz in Wien (1910), das, damals heftig umstritten, den Vergleich mit einem nackten menschlichen Körper herausfordert. Ein Schüler von Loos beschrieb den oberen Teil der Fassade als weich und jungfräulich, während der Marmor des unteren...
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