Das Urteil gegen Jesus im Jahre 30 / Gottessohn - ein Opfer politischer Justiz
Ronald Schumacher
Lesedauer: 10 Min.
»Der Urheber dieses Namens, Christus, wurde auf Befehl des Procurators Pontius Pilatus hingerichtet, als Tiberius Kaiser war.« Dieser kurze Satz des römischen Historikers Tacitus (Annalen 15,44) erinnert an einen der berühmtesten Gerichtsprozesse der Geschichte: Am Karfreitag des Jahres 30 wurde in Jerusalem ein Mann zum Tode verurteilt und am Kreuz hingerichtet, dessen Leben und Lehre die Menschen bis heute tief bewegen wird: Jesus. Seit jener Zeit wird heftig über die Frage diskutiert, welche Gründe zu diesem Todesurteil führten. Bis heute wird - abhängig von der Interpretation der historischen Quellen und vorherrschender Meinungen - über die Verantwortlichen für den Tod Jesu gestritten.
Über Leben, Wirken und Sterben Jesu unterrichten ausführlich die Evangelisten im Neuen Testament. Deutlich wird, dass ihre Berichte keine präzisen historischen Biografien sein. Die Evangelien sind ein bis zwei Generationen nach dem Tode Jesu geschrieben worden. Markus verfasste seinen Passionsbericht bald nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70. Die Evangelien nach Matthäus und Lukas folgten um das Jahr 90, während das Johannesevangelium erst um 100 entstand. Zeitgenössische Berichte konnten es daher nicht sein.
Das Römische Reich zeigte sich lange Zeit tolerant gegenüber fremden Kulten und Religionen. Diese für das Überleben des Weltreiches notwendige Politik führte zu einer zunehmenden Verbreitung orientalischer Mysterienkulte. Es war möglich, gleichzeitig in mehrere Mysterien eingeweiht zu sein. Da sie den römischen Kaiserkult akzeptierten, gerieten sie nicht in Konflikt mit dem Reich.
In der jüdischen Religion als monotheistischer Lehre durfte nur ein Gott verehrt werden. Der Bilderkult wurde abgelehnt. Damit gerieten die Juden eigentlich in Konflikt mit dem entstehenden römischen Kaiserkult. Sie erreichten aber, dass Caesar sie unter bestimmten Auflagen - Zahlung der Tempelsteuer - von öffentlichen Opferdarbringungen befreite.
Die frühen Christen, die Urgemeinde in Jerusalem, verstanden sich nicht als Anhänger einer neuen Religion. Als eine von mehreren jüdischen Sekten standen auch sie unter dem Schutz, den der Kaiser dem jüdischen Synagogenverband gewährte. Ein spezielles Gesetz gegen das Wirken der frühen Christen gab es nicht. Wurden Christen angeklagt, so wegen Staatsfeindlichkeit, Umsturzversuchen oder Anstiftung zum Aufruhr. Paulus klagte man Jahre später des Aufruhrs an und richtete ihn hin. Oder die Anklage lautete auf Gottlosigkeit wegen der Ablehnung der römischen Staatsgötter. Schon 399 v.Chr. hatte man in Athen Sokrates wegen Leugnung der Staatsgötter und Verführung der Jugend der Gottlosigkeit bezichtigt, der Prozess endete mit dem tödlichen Schierlingsbecher.
Mit Beginn der Kaiserherrschaft traten wichtige Veränderungen im Rechtswesen ein. Zur Festigung der neuen Staatsform erließ Augustus ab 18 v.Chr. eine Reihe neuer Gesetze, ein Jahr später folgte eine Gerichtsreform. Zu den Staatsverbrechen wurde nicht mehr nur Hochverrat gegen den Staat gezählt, sondern alle Handlungen und diskriminierenden Äußerungen gegen den Kaiser und seine Familie. Die Strafen verschärfte er. Selbstverbannung des Verurteilten wurde nicht mehr akzeptiert, die Todesstrafe in verschärfter Form aber tatsächlich vollstreckt (Kreuzigung, Feuertod, wilde Tiere). Hinzu kamen andere schwere Strafen mit meist tödlichem Ausgang (Einweisung in eine Gladiatorenschule, lebenslängliche Zwangsarbeit im Bergwerk).
In den Provinzen wurden Strafrechtsprozesse in Vertretung des Kaisers vom Statthalter geführt.
Mit der Umwandlung Judäas im Jahre 6 in eine römische Provinz übernahm der Statthalter nicht nur den militärischen Oberbefehl, sondern auch die Aufsicht über das Gerichtswesen. Als oberster Gerichtsherr besaß er als Einziger die Blutgerichtsbarkeit. Der Hohe Rat der Juden, das Synhedrium, hatte von nun an kein Recht mehr, Todesurteile zu vollstrecken. Johannes berichtet: »Da sprachen die Juden zu ihm [Pontius Pilatus]: Wir dürfen niemand töten.« (Joh. 18,31) Die Entscheidung über Leben und Tod, also auch über eine Kreuzigung, lag einzig in den Händen des römischen Statthalters.
Die Kreuzigung als eine Form der Todesstrafe geht nach dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot auf die Perser und Meder zurück. Alexander von Makedonien ließ 332 v.Chr. nach der Eroberung von Tyros 2000 Menschen auf diese Art hinrichten. Über die Karthager gelangte die Kreuzigung zu den Römern. Zunächst fand sie bei Schwerverbrechen (Raub, Mord) und politischen Vergehen (Verrat, Rebellion) Anwendung. Außerdem war es eine typische Form der Bestrafung von Sklaven. Das bekannteste Beispiel stammt aus Roms unmittelbarer Umgebung: Nach der Niederlage des Spartacus im Jahr 71 v.Chr. wurden 6000 seiner Anhänger entlang der Via Appia gekreuzigt.
Seit der Kaiserzeit war die Kreuzigung auch eine Hinrichtungsmethode für Aufständische und freie Nichtrömer in den Provinzen. Zusätzlich konnte der Verurteilte vor der Kreuzigung entkleidet und gegeißelt werden. Die Verurteilung zur Kreuzigung war dabei keine Seltenheit. Im Jahr 4 v.Chr. schlug der Legat von Syrien, Publius Quintilius Varus - Jahre später verlor er die Schlacht im Teutoburger Wald - einen Aufstand in Jerusalem nieder und anschließend 2000 Juden an das Kreuz.
Offenen Widerstand gegen Fremdherrschaften hatte es in Palästina schon in früheren Zeiten gegeben. Bekannt ist der Befreiungskampf der Juden unter Judas Makkabäus gegen die Seleukidenherrschaft um 165 v.Chr. Ein wichtiger - aber nicht der einzige - Grund für Unruhen war das Aufstellen von Götter- und Königsstatuen der fremden Herrscher im Tempel. Das widersprach dem jüdischen Bilderverbot (3. Mose 26,1).
Ein weiterer Grund kam hinzu, als Judäa im Jahre 6 prokuratorische Provinz wurde. Nun führte man auch hier das römische Steuersystem ein. Dagegen regte sich Protest. Unter Führung des Judas von Galiläa bildete sich eine politisch-religiöse Gruppierung, die zum Widerstand gegen Rom aufrief. Sie nannten sich »Zeloten«, die »Eiferer« um Gott. Sie lehnten Bilder in jeglicher Form ab und verweigerten die Zahlung römischer Steuern als Götzendienst an einem Kaiser, der sich als Gott verehren ließ. Je aussichtsloser der Kampf gegen das mächtige Rom wurde, desto größer wurde die Erwartung eines kämpferischen, eines politischen Messias als dem ersehnten Retter von der römischen Fremdherrschaft. In Palästina stritten unterschiedliche Glaubensrichtungen miteinander: Pharisäer, Sadduzäer, Essener und verschiedene messianische Bewegungen wollten das Volk Israel befreien.
Nach der Machtübernahme im Jahre 14 beschloss Kaiser Tiberius ein Verbot fremder, vor allem ägyptischer und jüdischer Kulte. Anhänger dieser Kulte wurden aus Rom vertrieben. Folgenreich war das Wirken des Lucius Aelius Seianus, Prätorianerpräfekt und Günstling des Kaisers. Als dieser sich im Jahre 27 auf die Insel Capri zurückzog, führte Seianus praktisch die Regierungsgeschäfte alleine. Bekannt ist, dass er einer der führenden Befürworter einer judenfeindlichen Politik war. Auf dem Gipfel seiner Macht fasste er den Entschluss zur rigorosen Bekämpfung der Juden. Zur Umsetzung des Plans kam es aber nicht mehr, da er selbst im Oktober 31 des Hochverrats angeklagt und sofort hingerichtet wurde.
Im Jahr 26 hatte Seianus aber bereits seinen Günstling zum Statthalter der Provinz Judäa erhoben, einen Mann, der gleichfalls für ein judenfeindliches Vorgehen bekannt war: Pontius Pilatus. Sofort inszenierte dieser eine Reihe von Provokationen gegen die Juden. Trotz des jüdischen Bilderverbotes ließ er seine Soldaten in Jerusalem mit Standarten einmarschieren, auf denen das Kaiserbildnis prangte. Bis ins Jahr 31 ließ er Münzen mit dem Krummstab, dem Symbol des kaiserlichen Priesteramtes, prägen. Des weiteren finanzierte er den Bau einer Wasserleitung aus dem Tempelschatz der Juden. Einen darauf folgenden Aufruhr ließ er durch seine Soldaten niederknüppeln. Alle diese Vorfälle mussten zu schweren Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung führen.
In dieser spannungsgeladenen politischen und religiösen Situation verkündete Jesus seine Botschaft von der kommenden Königsherrschaft Gottes. Dabei traf er auf die weit verbreitete Hoffnung von einer Befreiung des jüdischen Volkes durch den kommenden Messias. Doch Jesus ließ sich nicht - etwa von den Zeloten - in antirömische Auseinandersetzungen einbinden. Eine offene Konfrontation mit Rom vermied er, Gewalt lehnte er ab. Ein politischer Messias war er nicht.
Als Jesus am Palmsonntag in Jerusalem einzog, wurde ihm ein triumphaler Empfang bereitet (Matth. 21, 8-11). Tausende Juden waren zu den Passahfeiern in die Stadt gekommen, beteten im Tempel und begrüßten ihn als den erwarteten Messias (Mark 11, 9-10). Indem er auf einem Esel in die Stadt einritt, erfüllte er die Voraussage des Propheten Sacharja: »Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel.« (Sach 9,9) Als er dann im Tempelbezirk predigte, erfuhr er großen Zulauf durch das Volk. Mit der Reinigung des Tempels, dem Hinaustreiben der Händler und dem Umwerfen der Tische der Geldwechsler zog er sich den Unmut der Hohepriester zu. Jesus hatte Unruhe gestiftet. Zum bevorstehenden Passahfestes waren antirömische Ausschreitungen zu befürchten. Ein Eingreifen der Römer wäre dann wahrscheinlich. Der Hohe Rat der Juden und der römische Statthalter trafen Vorkehrungen.
Der Hohepriester Kaiphas ließ Jesus festnehmen: »Es ist euch besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.« (Joh. 11,50) Möglich, dass Kaiphas damit einer Auseinandersetzung mit den Römern zuvorkommen wollte. Andererseits stellte die von Jesus verkündete Gottesherrschaft und sein zunehmender Erfolg die Führungsrolle der Tempelpriester in Frage. Im Verhör vor dem Synhedrium bezichtigte man ihn der Gotteslästerung. Während der Reinigung des Tempels hatte er gesagt: »Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten« (Joh. 2,19) Darauf die entscheidende Frage des Hohepriesters: »Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?« (Mark 14,61)
Jesus bejaht nicht nur diese Frage (»Ja, ich bin's...«), sondern ergänzt sogar noch: »...und ihr werdet sehen des Menschen Sohn sitzen zur rechten Hand der Kraft und kommen mit des Himmels Wolken.« (Mark 14,62) Mit der Bejahung der Messiasfrage und der Verkündung des kommenden Menschensohnes hatte Jesus die Entmachtung der Priesterschaft ausgesprochen. Der Hohe Rat erhob Anklage auf Gotteslästerung: »Siehe, jetzt habt ihr seine Gotteslästerung gehört.« (Matth. 26,65) Auf Gotteslästerung stand nach jüdischem Recht der Tod (S. Mose 18,20). Bei Johannes 10,33 wird als Art der Hinrichtung die Steinigung erwähnt. Da aber das Synhedrium ein Todesurteil nicht vollziehen durfte, wurde der Prozess mit veränderter Anklage in eine andere Hand gelegt.
Der neue Ankläger war Pontius Pilatus. Die neue Anklage lautete: »Bist du der König der Juden?« (Mark 15,1) Indem Jesus antwortete: »Du sagst es« (Mark 15,3), wurde er als geständiger Aufrührer gegen den römischen Kaiser angeklagt und verurteilt. Zwar soll Pilatus nicht von der Schuld Jesu überzeugt gewesen sein (Luk 23,4; 23,22) und die Verurteilung des Barabbas vorgeschlagen haben. Berücksichtigt man aber die judenfeindliche Haltung von Pilatus, so ist dessen nachträgliche Reinwaschung durch die Evangelisten zu vermuten.
Pilatus ordnete die Verurteilung durch Tod am Kreuz an (Mark 15,15). Auf dem Wege zur Richtstätte wurde Jesus verspottet, gegeißelt und entkleidet - eine römische, nicht jüdische Vorgehensweise. Am Kreuz befestigte man über seinem Haupt die Schuldtafel. Nach römischem Recht wurden darauf formelhaft Name und Herkunft des Verbrechers und seine Untat öffentlich gemacht. Alle vier Evangelisten geben in etwa den gleichen Tafeltext wieder: »Pilatus aber schrieb eine Überschrift und setzte sie auf das Kreuz; und war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden.« (Joh. 19,19) Alle sollten es sehen und verstehen können, die Aufschrift war auf aramäisch, lateinisch und griechisch geschrieben worden.
Die Frage nach der Schuld von Römern und/oder Juden ist heute nicht mehr mit absoluter Sicherheit zu beantworten. Die jüdischen Hohe Priester sahen durch das Wirken Jesu ihre Autorität in Frage gestellt. Pilatus musste in ihm einen Unruhefaktor sehen, da er immer mehr an Zuspruch gewann. Der Anspruch, König der Juden zu sein bzw. zu werden, dürfte als Angriff auf die kaiserliche Macht und als politische und soziale Gefahr in einer der unruhigsten Provinzen des Imperiums interpretiert worden sein. Wo ein Kaiser regierte, war kein Platz für einen weiteren König! Die gewählte Art der Hinrichtung war deutlicher Hinweis auf die Verurteilung als politischer Aufrührer.
In den Evangelien wird wiederholt versucht, den römischen Statthalter zu entlasten und dem jüdischen Volk möglichst die Alleinschuld am Tod Jesu anzulasten. Zur Zeit der Entstehung der Evangelien war eine neue Situation entstanden. Nach der Niederschlagung des Jüdischen Aufstandes und der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 musste das Judentum sein Verhältnis zu Rom neu bestimmen. Unter dem Einfluss der Pharisäer wurden die Christen nicht mehr in der jüdischen Gemeinschaft geduldet. Da die Christen die Kaiserverehrung und eine Teilnahme an den offiziellen römischen Kulthandlungen ablehnten, wurden sie - nun ohne den Schutz der jüdischen Synagoge - verfolgt. Die junge christliche Kirche machte für ihr Schicksal die Juden verantwortlich.
Die antijüdische und römerfreundliche Tendenz der Passionsberichte ist nur zu verstehen, wenn man diese Auseinandersetzungen zwischen den frühen Christen und dem Judentum und die beginnende Trennung der beiden Glaubensrichtungen zu Ende des 1. Jahrhunderts berücksichtigt. Heutige Judenfeindlichkeit und Judenhass können damit nicht verbunden werden.
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