Die »Goldene Meile« des Sterbens

Als alles vorüber schien, kamen auf den Rheinwiesen Tausende in US-Kriegsgefangenschaft um

Die Sonne lockt, Radfahrer treten ihre Maschinen fast synchron zum Fließtempo des Rheins. Manche machen Rast bei der Schwarzen Madonna in der Friedenskapelle von Remagen. Mancher erfährt dort zum ersten Mal von den Grausamkeiten der »Goldenen Meile«.

»Goldene Meile« - der Name steht heute an idyllisch gelegenen Campingplätzen und Ausfluggaststätten. Vor 60 Jahren jedoch hatte der Name einen schrecklichen Klang. Für Tausende - niemand kennt die genaue Zahl - war die »Goldene Meile« Ort des Sterbens. Und Zehntausende litten entsetzlich. Dabei schien es doch, als sei nun das ganze Elend vorbei. »Wir waren weniger als nichts, hungrig, verlaust und ohne jede Zuversicht«, erinnert sich Karl Kockel. Vor sechs Jahrzehnten hatte man ihn einberufen zum Reicharbeitsdienst und dann nach Frankreich geschafft. Beim dem Rückzug, »der zunehmend zur Flucht wurde«, feierte er seinen 18. Geburtstag. In der Gegend von Zeitz bezog seine RAD-Flakbatterie dann wieder Stellung. Sie sollte »den Ami« aufhalten. Doch »der Ami« machte nicht viel Federlesen mit den jungen Spunden. Am 13. Februar 1945 wurden 46 Mann begraben, der Rest marschierte in Gefangenschaft - über Naumburg, Heiligenstadt, Kassel bis zur »Goldenen Meile«. Im März hatten die US-Truppen bei Remagen den Rhein überwunden, einen Brückenkopf gebildet und ihn zielstrebig verstärkt. Rund 300000 deutsche Soldaten waren »im Sack«. Man machte sich nicht die Mühe, sie fortzuschaffen. Innerhalb von wenigen Tagen errichteten die Etappen-Truppen von Eisenhower westlich des Rheins 17 »Prisoner of War Temporary Enclosures«. Man zäunte Quadrate ein, ohne Baracken, nicht einmal ein Dach schützte vor Sonne, Regen, Kälte. Hungrig erreichte der Zug, in dem auch Karl Kockel mitlief, den Rhein. In den beiden großen Kriegsgefangenenlagern bei Remagen und Sinzig herrschten schreckliche Bedingungen. Die Landser gruben mit den Händen Erdlöcher, um sich ein wenig gegen den Wind zu schützen. Morgens wachten sie - vergraben im Schlamm - auf. Je mehr deutsche Soldaten hinter den Stacheldraht gerieten, umso kleiner wurden die Rationen. Trinkwasser war eine Rarität. Ende April waren schon mehr als 160000 Kriegsgefangene allein im Lager bei Remagen inhaftiert. Unter ihnen hielten Unterernährung und Ruhr reiche Ernte. Anders als die britische Armee, die aus ihren kolonialen Einsätzen Erfahrungen mit der »Unterbringung« Waffenloser hatte, waren die US-Truppen hoffnungslos überfordert. Erst nach Wochen hatten die Camp-Kommandanten genügend deutsche Militärärzte und Sanitätspersonal aus den Gefangenenquadraten »herausgesiebt«, um die notwendigste medizinische Versorgung zu sichern. Anwohner versuchten, das Wenige, das sie zum Leben hatten, mit den Gefangenen zu teilen. Es kam zu erschütternden Szenen, wenn sie von den Wächtern mit Waffengewalt vertrieben wurden. Einige von denen, die die Deutschen bewachten, bekennen heute, wie groß ihre Angst vor den Deutschen war. Woher sollten sie wissen, dass »Werwolf« nicht mehr als eine kranke Idee des untergehenden Nazireiches war? Und noch war sehr gegenwärtig, wie die Hitler-Truppen während der Ardennen-Offensive gefangene US-Soldaten niedergemetzelt hatten. Am 20. Juni 1945 lösten die US-Amerikaner das Camp auf. Kockel hatte Glück, er gehörte zu jenen, die nicht in andere Lager verlegt wurden. Mehr noch, leere US-Laster, die nach Thüringen fuhren, um von dort US-Truppen hinter die in Jalta verabredeten Besatzungsgrenzen zu holen, nahmen ihn und rund 1000 seiner Kameraden mit bis nach Erfurt. Dort hat er etwas erlebt, das ihn noch heute im Innersten erschüttert. »Die Menschen sahen uns kraftlose Gestalten und vergaßen ihr eigenes Leid. Sie schleppten Brot heran. Nie wieder«, so Kockel, »hat ein Brot so geschmeckt wie das damals in Erfurt.« Die Inschrift der Friedenskapelle bei Remagen lautet: »Den Toten zum Gedenken, den Überlebenden als Vermächtnis. D...

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