Entzauberte Vorstadt-Idylle
Eichwalde unterm Hakenkreuz - ein deutsches Beispiel
Dieser Ort wird sehr gern als der »grüne Vorgarten der Hauptstadt« bezeichnet. Hier gibt es - immer noch - mehr Bäume als Einwohner (knapp 6000). Mit nur wenigen Schritten ist man von der Berlin-Köpenicker auf die andere Seite der zweigeteilten Waldstraße im Villen-Milieu des brandenburgischen Eichwalde; eine halbe Stunde S-Bahnfahrt genügt, um der Großstadt-Hektik zu entrinnen.
Ein alter Mann erzählte mir, wie er sich im Mai 1945 unter Mühen durch rauchende, schwelende Trümmerstraßen, über denen Leichengeruch lag, bis Eichwalde durchgeschlagen hatte und dann verwundert feststellen musste: »Ich glaubte, in einer anderen Welt zu sein, denn hier schien die Sonne sauber und in den Gärten sah ich sich sonnende Menschen, als wäre nichts geschehen...« Und doch war auch in Orten wie Eichwalde etwas geschehen, hatten Faschismus und Krieg ihre Spuren hinterlassen. In besonderer Erinnerung ist vielen, dass in der Nacht zum 24. Dezember 1943 eine Mine in die Bruno-Taut-Siedlung fiel und 29 Menschen, darunter auch Kinder, tötete. Aber auf die Frage: Und was ereignete sich sonst noch unterm Hakenkreuz in Eichwalde, fand man bisher kaum oder wenig kompetente Antworten.
Es ist das Verdienst des Heimat-Historikers Wolfgang Müller, dass nunmehr mit seiner Schrift »Eichwalde unterm Hakenkreuz«* Licht in das Dunkel-Braune dieses - aus welchen Gründen auch immer in der Vergangenheit tabuisierte - Kapitel der Ortsgeschichte kommt. Er hat mit viel Fleiß und Akribie freiwillig und ehrenamtlich in unzähligen Gesprächen mit Zeitzeugen sowie in mühsamen Archivrecherchen Material zusammen getragen und verarbeitet, das weitaus mehr ist, als nur die gelungene Darstellung regionaler Geschichte. Verdienstvoll auch deshalb, weil sich die »große Geschichtsschreibung« wohl kaum dem kleinen Ort zugewandt hätte; aber Geschichte setzt sich nun mal aus den Mosaiksteinen der Geschichte des Alltags eines Volkes zusammen. Der wissenschaftliche Wert dieser Arbeit, so wurde auch bei der Vorstellung des Heimatheftes betont, liegt darin, dass es dem Autor gelang, die allgemeinen Grundzüge der Faschismusforschung mit der Spezifik des Ortes und den konkreten, ganz persönlichen Schicksalen zu verknüpfen. Wolfgang Müller hat die Entstehung und die Herrschaft des Nazisystems unter den Bedingungen einer Kommune wie Eichwalde dargestellt.
Während manche mitunter allzu nachsichtig die Ortsgruppe der NSDAP Eichwalde als »ein Mitleid erregendes kleines Häuflein« bezeichnen, weist Müller nach: Tatsächlich zählte die Nazipartei 1932 erst 50 Mitglieder, aber seit März 1933 stieg die Zahl sprunghaft und hatte 1938 bereits 588 erreicht, das sind 12,6 Prozent der 4660 Wahlberechtigten. Zu den so genannten Pgs gab es Hunderte Anhänger in 18 örtlichen Verbänden und Gliederungen, darunter 15 SS-Leute, von denen drei in KZs eingesetzt waren. Die überwiegende Mehrheit der Eichwalder war - wie aus dem Abstimmungsverhalten hervorgeht - schon bald auf den Kurs der NSDAP eingeschwenkt, Christen nicht ausgenommen. »Als am 1. Juli 1933 der König-Albert-Platz, der heute Händel-Platz heißt, in Adolf-Hitler-Platz umbenannt wurde, erklang aus dem evangelischen Gotteshaus, das neben der Kirchenfahne auch mit der Reichs- und der Hakenkreuzfahne dekoriert war, feierliche Orgelmusik.«
In der Eichwalder »Karneval-Zeitung« von 1935 wurde - sogar vorauseilend - vom Elferrat, »garantiert arischer Abstimmung«, forsch verkündet: »Fort ist das ganze Judenpack... im Ausland sitzend auf ihrem Sack.« Auch in dieser kleinen Vorstadt fanden die auf dem Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP im September 1935 verkündeten mörderischen Rassengesetze brutale Umsetzung. Der angesehene Arzt Dr. Julius Giessel wurde als »Mischling ersten Grades« diskreditiert, ihm wurde die Approbation aberkannt, seine Familie musste fliehen. Der Schriftsetzer Kuttner galt als »rassereiner Jude«, seine Ehefrau als »deutschblütig«, die Kinder als »Mischling 1. Grades«. Als ein Sohn Kuttners ein »deutschblütiges Mädchen« heiraten wollte und eine Genehmigung beim Regierungspräsidenten in Potsdam beantragte, begann eine menschenunwürdige bürokratische Prozedur, die letztlich in eine Ablehnung mündete. Auch zwei weiteren Kindern Kuttners wurde die Heiratserlaubnis verweigert, aber beide Söhne wurden für tauglich befunden, Soldat zu werden. Vater Kuttner schied 1939 aus dem Leben, sicher im Gefühl, für seine Kinder eine Gefahr zu sein.
Der Leser erfährt, dass auch im stillen, grünen Eichwalde Juden verfolgt wurden und die örtlichen Nazis auch ihre »Kristallnacht« haben wollten. SA-Horden überfielen am 9. November 1938 die Häuser des Kaufmannes Max Hirsch in der Mariannenstraße, der Familie Boas in der Sedan-Straße (heute Grenzstraße) und der Familie Schlesinger in der Stubenrauchstraße. Die mittlerweile 80-jährige, heute im Rheinland lebende Tochter des jüdischen Bürgers Freudenberg, Ruth Weis, berichtet: »Am nächsten Tag mussten alle Juden sich auf der Straße sammeln und wurden verhaftet, auch mein Vater... Man brachte ihn ins KZ Sachsenhausen.« Herr Freudenberg starb 1945 auf dem Todesmarsch der KZ-Häftlinge von Sachsenhausen.
Hitlers »Lieblingsarchitekt«, der Rüstungsminister Albert Speer, sorgte dafür, dass die Zahl der Zwangsarbeiter in der deutschen Wirtschaft bis 1944 auf sieben Millionen stieg. Dafür mussten auch in Berlin und in Umgebung Lager eingerichtet oder gebaut werden; viele Zwangsarbeiter wurden auch in Einzelhaushalten beschäftigt. Bekannt war den Eichwalder Bürgern das Lager für etwa 90 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, vornehmlich russische »Ostarbeiter«, in der ehemaligen Großtischlerei Rottschäfer, die mit Spezialanfertigungen am Bau von Jagdflugzeugen beteiligt war. Weitgehend unbekannt war jedoch das Lager »Am Schießplatz«. Es wurde vom SA-Mann und Schuhmacher Otto Graef aus Eichwalde auf dem Bauerngehöft der Familie Linke »Kahlehorst«, auf der Gemarkung Waltersdorf, errichtet; das Reichsministerium hatte ihm dafür eine Summe von 12734 Reichsmark (RM) genehmigt. Hier arbeiteten etwa 17 Frauen und Männer in Graefs Werkstatt. Heute sind nur noch die Reste der Grundmauern zu sehen, von Wald und Moos überwuchert.
Nach Erscheinen des Heimatheftes meldeten sich viele Zeitzeugen. So auch Gisela Hinz, geborene Linke, eine Berlinerin, die in Eichwalde ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Sie erinnerte sich kürzlich bei einem Treffen in »Kahlehorst«, dass eine Polin namens Judith im Lager ein Kind zur Welt gebracht hatte. Mutter Linke, die Graefs Zwangsarbeitern heimlich Essen zusteckte, habe ihr Babybekleidung gespendet. Doch das Kind war zu schwach, nicht lebensfähig; man habe es irgendwo im Wald vergraben...
Nicht zuletzt ist es auch Verdienst des Autors, mit dieser Schrift jene Eichwalder Bürger aus ihrer Ano nymität geholt zu haben, die sich dem NS-Regime - vor allem Kommunisten - widersetzten und verfolgten jüdischen Bürgern halfen. So vermittelt die Schrift vieles, was Ältere verdrängt haben und Jüngere nicht wissen können. Es ist dem Eichwalder Heimatverein zu danken, der den Autor unterstützte und ihn in seiner Arbeit bestärkte. Wolfgang Müller ist vollends zuzustimmen: Man kann zwar privat ein Familienerbe ausschlagen, eine Kommune jedoch kann das mit ihrer geschichtlichen Hinterlassenschaft nicht tun. Sie muss sich stellen, auch um d...
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