Dieses Land ist es nicht

Rio Reiser auf DVD: Live in Berlin (Hauptstadt der DDR)

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
Als die wegweisende Anarcho-Band Ton Steine Scherben sich 1985 trennte und Rio Reiser sich in der Folgezeit mit sanfteren, privateren Songs als Solo-Künstler versuchte, nahmen ihm das viele Scherben-Fans krumm. Vom »Keine Macht für niemand« skandierenden West-Berliner Hausbesetzer zum »König von Deutschland«? Etliche Anhänger scheiterten an dieser biografischen Kurve, lenkten nicht gegen und wurden also aus dem Reiser-Universum geschleudert. Vor allem Fans aus dem Westen konnten mit der poppigen Gangart nichts anfangen und bezichtigen die eingängigen Solo-Lieder der Kommerzialität. Vielleicht liegt es daran, dass Rock-Fans aus der DDR mehr darin geübt waren, zwischen den Zeilen zu lesen: Im Osten verlor Reiser wenig an Popularität, hier wurden die neuen Songs genau dechiffriert - und oft für sehr politisch befunden. Als Rio Reiser im Oktober 1988 ein Konzert mit alten und neuen Titeln in der Werner-Seelenbinder-Halle in Berlin (Hauptstadt der DDR) gab, war das für viele ein Ereignis von allerhöchster Priorität. Obwohl der linke Sänger aus dem Westen, anders als etwa sein Kollege Udo Lindenberg, wohl beim Schreiben der wenigsten seiner Lieder zuerst an die Menschen in der DDR gedacht hat, fanden gerade die sich in vielen Stücken wieder und stürzten sich in die Musik, als sei sie eigens für sie geschaffen worden. »Von oben« bekam Reiser nur eine Auflage für sein Gastspiel: »Keine Macht für niemand« solle er bitte nicht spielen. Er hielt sich daran. Die Aufzeichnung des Konzerts gibt es nun auf DVD, ergänzt um ein Interview mit dem DDR-Fernsehen, einige Videos und ein Reiser-Porträt des Südwestfunks von 1986. Im originellen DVD-Menü, das ein Zimmer des Scherben-Rückzug-Idylls Fresenhagen zeigt, finden sich, gut versteckt, sogar noch weitere Raritäten, etwa eine Aufnahme des Reiser-Auftritts bei einem Silly-Konzert. Durch die Kombination des Materials ist diese DVD mehr als eine Erinnerung für jene, die in der Seelenbinder-Halle dabei waren. Sie dokumentiert einen Ausschnitt der musikalischen Auseinandersetzung mit Deutschland Ost und West unmittelbar vor und nach 1989. Eines der Lieder, die Reiser in damals sang, wurde vom Fernsehen der DDR herausgeschnitten und ist »nur« als Audio-Version erhalten. Es ist der Scherben-Titel »Der Traum ist aus«, in dem das Bild eines Landes ohne Angst, Krieg und Ungerechtigkeit entworfen wird. Entstanden in den frühen 70ern in der Rebellen-Oase West-Berlin, singen Reisers Fans aus der DDR den Refrain 1988 so inbrünstig mit, dass mir auch heute, fast zwei weitere Jahrzehnte später, eine Gänsehaut den Rücken herunterläuft: »Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist? Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur eins und da bin ich sicher: Dieses Land ist es nicht, dieses L...

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