• Kultur
  • Beim Berliner Arbeitsgericht

80 Prozent sind Psychologie

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.
Schickt deutsche Beamte ins Ausland, damit sie lernen, wie man's besser machen kann! Zum Beispiel ein paar Arbeitsrichter nach Dänemark. Das ist ebenfalls ein Land mit hohem sozialem Standard und mit Strukturproblemen. Aber die Arbeitslosigkeit dort ist relativ niedrig, und das hat nicht zuletzt mit einem anderen Umgang der Gerichte mit dem Kündigungsschutz zu tun. Da tut Austausch Not!
Michael Burda, Professor am Institut für Wirtschaftstheorie der Humboldt-Universität in »Die Zeit«

Bemühungen, den Kündigungsschutz zu lockern, gab es schon immer«, sagt Reinhold Gerken, »sie liegen in der Natur der Sache.« Es hört sich an, als würde er abwinken: Alles nicht so schlimm. Arbeitsgerichte bestehen seit 1927 und sind eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung.
Reinhold Gerken, ein hochgewachsener, würdevoll aussehender Mann, ist Arbeitsrichter und Vizepräsident des Berliner Arbeitsgerichts. Gleich wird er im Saal 236 einige Güteverhandlungen leiten. »Neun von zehn Güteverhandlungen«, erklärt er, »werden schon drei bis vier Wochen nach Eingang einer Klage anberaumt.« Denn das Motto der Arbeitsgerichte sei: kostengünstig und schnell. Die »Güte« gehe dem Kammertermin voraus, den es dann im Falle einer Einigung gar nicht mehr geben müsse.
Die »Güte« wird nur vom Berufsrichter geleitet, Gerken wird also mit den Kontrahenten allein verhandeln. Die Kontrahenten, das sind in Kündigungsschutzverfahren der Kläger, also derjenige, der auf die Straße gesetzt wurde, und die Beklagte, also die Firma, die den Kläger, aus welchen Gründen auch immer, entlassen hat. »Über die Realität des Kündigungsschutzes«, erzählt Gerken, »herrschen viel Unkenntnis und falsche Vorstellungen. Deutschlandweit gibt es zur Zeit 35 bis 40 Millionen Beschäftigungsverhältnisse. Davon werden 3,5 bis 4,5 Millionen jedes Jahr gewechselt, immerhin knapp die Hälfte davon auf Initiative der Arbeitnehmer. Nur etwa jede dritte Trennung erfolgt auf Wunsch des Arbeitgebers via Kündigung. Nur 10 bis 15 Prozent dieser Kündigungen kommen vor Gericht! 250000 bis 300000 Streitigkeiten über die Beendigung von Arbeitsverhältnissen gibt es pro Jahr, von denen nur sehr wenige tatsächlich zum Erhalt des Arbeitsplatzes führen - das Gros der Klagen endet mit einem Abfindungsvergleich. Denn selbst nach einem gewonnenen Streit ist das Klima meist so vergiftet, dass man nicht mehr zusammenarbeiten kann.« Gerken lässt eine Pause: »Das heißt, ist die Kündigung erst einmal in der Welt, verhindert der gesetzliche Kündigungsschutz nur ganz ausnahmsweise den Verlust des Arbeitsplatzes. Der Kündigungsschutz lebt von seinem Ruf!«

Das Arbeitsgericht verhandelt in Fachkammern. Dies wurde so eingerichtet, weil jede Branche ihre Spezifik hat, mit der sich der Richter gut auskennt. Gerken ist Vorsitzender einer Baukammer. Das Baugewerbe ist »ein derzeit besonders darbender Wirtschaftszweig mit 57,3 Prozent Arbeitslosigkeit in Berlin und einer hohen Schwarzarbeitsquote«. Auf den Richtertisch legt Gerken den Taschenrechner, in der »Güte« das »wichtigste Arbeitsmittel« des Richters.
Am Tisch rechts gegenüber nimmt der erste Kläger Platz. Er ist 35, seine Firma hat ihm die Kündigung ausgesprochen, nicht fristgemäß, glaubt er. Die lässt sich heute nur durch einen Rechtsanwalt vertreten, der für die Kündigung verhaltensbedingte Gründe ins Feld führt: Die Kollegen seien nicht mehr willens, mit dem jungen Mann zusammenzuarbeiten, weil er seine Arbeitsleistung unlustig und mangelhaft erbringe. Dem widerspricht der junge Mann. Der Anwalt kann seine Behauptungen nicht weiter untermauern.
Nun ist eine Kündigung kein Delikt, bei dem die Staatsanwaltschaft ermittelt. Der Richter kann nur berücksichtigen, was ihm vorgetragen wird. Was ihm nicht vorgetragen wird, kann er nicht wissen, und wenn nur vorgetragen wird, was arbeitsrechtlich nicht relevant ist, haben der Kläger oder die Beklagte Pech gehabt. Was die beanstandete Kündigungsfrist betrifft, so hat der junge Mann schlechte Karten; sie war in Ordnung. Aber das sagt Gerken nicht sofort. Vielmehr fragt er den jungen Mann, ob er Abmahnungen erhalten hat. Nein, das habe er nicht, aber Prämien habe er bekommen. Das kann der Anwalt der Firma nicht widerlegen, und von der Firma selbst ist ja niemand anwesend. Gerken erkundigt sich bei dem jungen Mann, ob er schon eine neue Arbeit hat. Natürlich hat er die nicht. Dem Anwalt, der sich in der Defensive wähnt, unterbreitet Gerken nun seinen »Vorschlag zur Güte«: Die Firma solle für die Kündigung nicht verhaltens-, sondern betriebsbedingte Gründe anführen, dem Kläger außerdem ein gutes Zeugnis ausstellen und ihm eine Abfindung zahlen. »Was bieten Sie«, fragt er den Anwalt. Der räumt entsprechend der vier Jahre, die der junge Mann bei der Firma beschäftigt war, 1820 Euro ein, einen Monatslohn. Gerken wiegt den Kopf: Die Summe sehe etwas krumm aus, man solle sie auf 2000 aufrunden. Der Anwalt stimmt zu, der junge Mann ebenfalls; der Vergleich ist geschlossen.
»Die meisten Kläger«, erzählt Gerken in der Pause bis zur nächsten Güte, »wollen bislang gar kein Urteil in der Sache, weil sie dann in die Firma zurückkehren müssten. Gerade, wenn man ihnen ein Fehlverhalten vorgeworfen hat, fühlen sie sich in ihrer Würde verletzt und wollen dies richtiggestellt wissen. Wir sind eigentlich Mediatoren der Trennung.« Dass 90 Prozent der Kläger Abfindungen erhielten, sei allerdings ein ebenso zäher wie falscher Mythos. Eine - gesetzlich nicht vorgeschriebene - Abfindung erreiche nur jeder Zweite. Richtwert sei ein halbes Bruttogehalt pro Beschäftigungsjahr. »Bei einer potenten Firma ist das drin. In der Baubranche nicht. Wir richten unsere Vorschläge auch an der wirtschaftlichen Potenz der Betriebe aus. Und einem nackten Mann kann man bekanntlich nicht in die Tasche fassen.«

Bei der nächsten »Güte« ist der Kläger 48, verheiratet und hat zwei Kinder. Seit 1997 arbeitete er als Bauleiter, nun wurde ihm betriebsbedingt gekündigt. Neben ihm sitzt sein Anwalt. Links gegenüber Gerken haben Geschäftsführer und Anwalt Platz genommen. »Der Geschäftsführer ist selbst da, schön«, bemerkt Gerken, »wie wir gerade wieder gesehen haben, kommen viele Arbeitgeber zur "Güte" gar nicht mehr, so dass sie zum Sachverhalt nicht befragt werden können.« Der 48-Jährige hat gegen die Entlassung geklagt, weil er eine Chance sieht: Zwar gibt es in Firmen mit nicht mehr als fünf Mitarbeitern (seit 2004 mit nicht mehr als zehn Mitarbeitern) keinen gesetzlichen Kündigungsschutz, aber er weiß, dass einmal pro Woche eine Reinigungskraft kommt. Und damit wären sie sechs. Es müsste eine Sozialauswahl getroffen werden, bei der er nicht schlecht abschnitte.
Der Geschäftsführer, ein kantiger Mann, dem man ansieht, dass er auch selbst zupacken kann, stöhnt auf. Seine Firma, die einmal 80 Mitarbeiter hatte, dann auf 40 reduzieren musste, ist seit Oktober auf fünf Mann runter. Keine Aufträge! Die Reinigungskraft ist von einer anderen Firma »gemietet« - der Kläger habe also keine Chance. Darüber, dass der ihn trotzdem vor Gericht geschleppt hat, ist der Geschäftsführer sauer, weil er ihn schon 15 Monate »mitgeschleift« habe. Das gehe nun nicht mehr.
Nach kurzer Erörterung der Sach- und Rechtslage schlägt Gerken vor, dass die Firma, statt eine Abfindung zu zahlen, das Arbeitsverhältnis um drei Monate verlängert, dem Mann ein »Top-Zeugnis« ausstellt und ihn beurlaubt, damit er sich im Frühling, wenn das Baugewerbe vielleicht wieder aufatmet, aus ungekündigter Stellung heraus bewerben kann. Der Geschäftsführer wird bleich. Er bittet, sich mit seinem Anwalt auf dem Flur beraten zu dürfen. Offenbar geht es hier um Leben und Tod der Firma.
Gerken erklärt inzwischen, dass die Zeiten, in denen eine Abfindung etwas wert war, vorbei seien. Früher hätten viele es nur auf möglichst viel Geld abgesehen; sie hatten schon einen neuen Arbeitsplatz in der Hinterhand und kauften sich von der Abfindung ein neues Auto. Und Arbeitgeber waren spendabel: Wollten sie jemanden los werden, ließen sie sich das etwas kosten, mitunter nach dem Motto: Darf's noch etwas mehr sein? Heute dagegen sei es schwer, einen neuen, gar noch gleich guten Arbeitsplatz zu finden. Für jemanden im Baubereich über 40 oder ungelernt fast unmöglich. »Und bis man Arbeitslosengeld II bekommt, muss man die Abfindung erst mal verbrauchen. Bekommt man dann endlich ALG II, ist die Rente nach vielleicht weiteren 15 oder 20 Jahren Arbeitslosigkeit auch nicht viel höher. Auch jemand, der gut verdiente, riskiert so, zum Sozialfall zu werden - bis zum bitteren Ende.« Deshalb müsse ein älterer Gekündigter überlegen, ob er sich bereits in der »Güte« vergleicht. Oder kämpft. Das Risiko: Er verliert. Wer sich aber gütlich einigen will, sollte nicht nur an eine Abfindung denken, sondern einen Vergleich anstreben, der ihm auf dem Arbeitsmarkt eine Chance lässt. Einen Vergleich, wie ihn Gerken eben vorgeschlagen hat.

Der Geschäftsführer, als er den Verhandlungssaal wieder betritt, ist immer noch bleich. Nein, er kann den Kläger nicht noch weitere Monate beschäftigen. »Überlegen Sie es sich in Ruhe«, sagt Gerken, »sonst geht die Geschichte weiter. Das kann viel Zeit und Geld kosten. Sie können dem Vergleich ja unter Vorbehalt zustimmen und gegebenenfalls innerhalb von 14 Tagen widerrufen.« Der Geschäftsführer willigt ein. Gerken später: »Wir versuchen, den Prozessparteien die Einigung schmackhaft zu machen, weil die finanziellen Risiken eines langen Rechtsstreits für alle hoch sind. 80 Prozent der "Güte" sind Psychologie. Bei der betriebsbedingten Kündigung muss man einerseits die sozialen und psychischen Folgen eines - vielleicht dauerhaften - Arbeitsplatzverlustes bedenken. Andererseits muss man berücksichtigen, dass die wirtschaftliche Lage inzwischen viele Arbeitgeber mit dem Rücken an die Wand gedrängt hat.«
Eine Woche später leitet Gerken Kammertermine. Ihm zur Seite zwei ehrenamtliche Richter, Frau Weinmann und Herr Schwiderrek. Frau Weinmann wurde als selbstständige Unternehmerin von ihrem Arbeitgeberverband entsandt, Herr Schwiderrek als Arbeitnehmer von seiner Gewerkschaft. Wenn ein Urteil gefällt wird, zählt ihre Stimme genauso viel wie die des Berufsrichters.
Bevor die ersten Parteien erscheinen, regt Herr Schwiderrek sich über den professoralen Rat auf, von Dänemark zu lernen. Er weiß nämlich, das jeder, der in Dänemark seine Arbeit verliert, am nächsten Tag eine neue finden könne. Finde er keine, erhalte er 80 Prozent seiner letzten Nettobezüge - und zwar bis zur Rente. »Mit Deutschland ist das seit Hartz IV nicht zu vergleichen.« Gerken sagt, dass er das dänische Modell gern näher kennen lernen würde. Im Übrigen würde angesichts der hohen Sockelarbeitslosigkeit in Deutschland die geforderte weitere Lockerung des Kündigungsschutzes vermutlich nicht einen einzigen Arbeitslosen mehr in Arbeit bringen. Im Gegenteil: Wenn diejenigen, die in Arbeit sind, noch weniger gesetzliche Sicherheit verspürten, würden sie das Geld, das sie verdienen, noch mehr zusammenhalten. Der Binnenkonjunktur ginge es dann wahrscheinlich zunächst noch schlechter.

Im Verhandlungssaal hat inzwischen der Anwalt der beklagten Firma schon mal eine Robe aus seinem eindrucksvollen schwarzen Pilotenkoffer geholt. Die Anwältin des Klägers, jung, blass und in Jeans, hat nur einen statuslosen Rucksack und keine Robe dabei. Sie vertritt einen 44-jährigen Logistiker, dem betriebsbedingt gekündigt wurde. Für die Firma ist der Geschäftsführer anwesend. Nachdem die »Güte« vor einigen Wochen gescheitert ist, soll es nun zur Sache gehen. Aber auch hier wird der Vorsitzende wieder versuchen, einen Vergleich zu erzielen. Der Streit scheint verzwickt. Die Baufirma hat den Logistiker entlassen, weil sie keine eigene Logistikabteilung mehr unterhält. Der Logistiker hat gegen die Kündigung geklagt, weil ein anderer Kollege, bislang ebenfalls Logistiker, inzwischen als Bauüberwacher bei der Firma arbeitet. Er glaubt, nach einer entsprechenden Umschulung könne er das auch. Die Firma hat auf seine Klage mit einer Widerklage auf Schadenersatz geantwortet: Der Kläger habe den Firmenwagen und einen Laptop nicht rechtzeitig zurückgegeben. Auch der Logistiker hat noch Forderungen an die Firma: Er habe 73 Überstunden nicht vergütet bekommen, deren Leistung ja im Übrigen auch dagegen spreche, dass man ihn nicht mehr braucht. Seine Anwältin wirft ein, dass er die Arbeitsmittel gar nicht rechtzeitig zurückgeben konnte, weil er krank war.

Die Rechtslage ist schnell klar: Dem Arbeitgeber steht es frei, wie er seinen Betrieb organisiert. Er kann also auch die Logistikabteilung schließen und die Arbeiten nach außen verlagern. Da der Kläger zum Zeitpunkt der Kündigung der einzige Logistiker in der Firma war, scheidet eine Sozialauswahl aus. Und eine Umschulung zum Bauüberwacher kommt schon deshalb nicht in Frage, weil die Grundausbildung des Klägers für diese Qualifikation nicht ausreicht. Und trotz Krankheit hätte er eine Möglichkeit finden müssen, der Firma das Auto und den Laptop zukommen zu lassen.
Bei dieser Lage ist für den Kläger nicht mehr viel drin. Der Kammer gelingt es, einen Vergleich zu vermitteln, wonach der Logistiker die Kündigung akzeptiert. Im Gegenzug erhält er sein sehr gutes Zeugnis und eine kleine Abfindung, von der die Forderungen der Firma abgezogen werden. Zusätzlich sichert ihm sein früherer Arbeitgeber zu, die Zahl der geltend gemachten Überstunden zu prüfen und schnellstens zu bezahlen.
Obwohl der Kläger nicht viel gewonnen hat, sieht er zufrieden aus. Immerhin hat sich auch die Firma bewegt. Wie Gerken sagt: 80 Prozent sind Psychologie.Schickt deutsche Beamte ins Ausland, damit sie lernen, wie man's besser machen kann! Zum Beispiel ein paar Arbeitsrichter nach Dänemark. Das ist ebenfalls ein Land mit hohem sozialem Standard und mit Strukturproblemen. Aber die Arbeitslosigkeit dort ist relativ niedrig, und das hat nicht zuletzt mit einem anderen Umgang der Gerichte mit dem Kündigungsschutz zu tun. Da tut Austausch Not!
Michael Burda, Professor am Institut für Wirtschaftstheorie der Humboldt-Universität in »Die Zeit«

Bemühungen, den Kündigungsschutz zu lockern, gab es schon immer«, sagt Reinhold Gerken, »sie liegen in der Natur der Sache.« Es hört sich an, als würde er abwinken: Alles nicht so schlimm. Arbeitsgerichte bestehen seit 1927 und sind eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung.
Reinhold Gerken, ein hochgewachsener, würdevoll aussehender Mann, ist Arbeitsrichter und Vizepräsident des Berliner Arbeitsgerichts. Gleich wird er im Saal 236 einige Güteverhandlungen leiten. »Neun von zehn Güteverhandlungen«, erklärt er, »werden schon drei bis vier Wochen nach Eingang einer Klage anberaumt.« Denn das Motto der Arbeitsgerichte sei: kostengünstig und schnell. Die »Güte« gehe dem Kammertermin voraus, den es dann im Falle einer Einigung gar nicht mehr geben müsse.
Die »Güte« wird nur vom Berufsrichter geleitet, Gerken wird also mit den Kontrahenten allein verhandeln. Die Kontrahenten, das sind in Kündigungsschutzverfahren der Kläger, also derjenige, der auf die Straße gesetzt wurde, und die Beklagte, also die Firma, die den Kläger, aus welchen Gründen auch immer, entlassen hat. »Über die Realität des Kündigungsschutzes«, erzählt Gerken, »herrschen viel Unkenntnis und falsche Vorstellungen. Deutschlandweit gibt es zur Zeit 35 bis 40 Millionen Beschäftigungsverhältnisse. Davon werden 3,5 bis 4,5 Millionen jedes Jahr gewechselt, immerhin knapp die Hälfte davon auf Initiative der Arbeitnehmer. Nur etwa jede dritte Trennung erfolgt auf Wunsch des Arbeitgebers via Kündigung. Nur 10 bis 15 Prozent dieser Kündigungen kommen vor Gericht! 250000 bis 300000 Streitigkeiten über die Beendigung von Arbeitsverhältnissen gibt es pro Jahr, von denen nur sehr wenige tatsächlich zum Erhalt des Arbeitsplatzes führen - das Gros der Klagen endet mit einem Abfindungsvergleich. Denn selbst nach einem gewonnenen Streit ist das Klima meist so vergiftet, dass man nicht mehr zusammenarbeiten kann.« Gerken lässt eine Pause: »Das heißt, ist die Kündigung erst einmal in der Welt, verhindert der gesetzliche Kündigungsschutz nur ganz ausnahmsweise den Verlust des Arbeitsplatzes. Der Kündigungsschutz lebt von seinem Ruf!«

Das Arbeitsgericht verhandelt in Fachkammern. Dies wurde so eingerichtet, weil jede Branche ihre Spezifik hat, mit der sich der Richter gut auskennt. Gerken ist Vorsitzender einer Baukammer. Das Baugewerbe ist »ein derzeit besonders darbender Wirtschaftszweig mit 57,3 Prozent Arbeitslosigkeit in Berlin und einer hohen Schwarzarbeitsquote«. Auf den Richtertisch legt Gerken den Taschenrechner, in der »Güte« das »wichtigste Arbeitsmittel« des Richters.
Am Tisch rechts gegenüber nimmt der erste Kläger Platz. Er ist 35, seine Firma hat ihm die Kündigung ausgesprochen, nicht fristgemäß, glaubt er. Die lässt sich heute nur durch einen Rechtsanwalt vertreten, der für die Kündigung verhaltensbedingte Gründe ins Feld führt: Die Kollegen seien nicht mehr willens, mit dem jungen Mann zusammenzuarbeiten, weil er seine Arbeitsleistung unlustig und mangelhaft erbringe. Dem widerspricht der junge Mann. Der Anwalt kann seine Behauptungen nicht weiter untermauern.
Nun ist eine Kündigung kein Delikt, bei dem die Staatsanwaltschaft ermittelt. Der Richter kann nur berücksichtigen, was ihm vorgetragen wird. Was ihm nicht vorgetragen wird, kann er nicht wissen, und wenn nur vorgetragen wird, was arbeitsrechtlich nicht relevant ist, haben der Kläger oder die Beklagte Pech gehabt. Was die beanstandete Kündigungsfrist betrifft, so hat der junge Mann schlechte Karten; sie war in Ordnung. Aber das sagt Gerken nicht sofort. Vielmehr fragt er den jungen Mann, ob er Abmahnungen erhalten hat. Nein, das habe er nicht, aber Prämien habe er bekommen. Das kann der Anwalt der Firma nicht widerlegen, und von der Firma selbst ist ja niemand anwesend. Gerken erkundigt sich bei dem jungen Mann, ob er schon eine neue Arbeit hat. Natürlich hat er die nicht. Dem Anwalt, der sich in der Defensive wähnt, unterbreitet Gerken nun seinen »Vorschlag zur Güte«: Die Firma solle für die Kündigung nicht verhaltens-, sondern betriebsbedingte Gründe anführen, dem Kläger außerdem ein gutes Zeugnis ausstellen und ihm eine Abfindung zahlen. »Was bieten Sie«, fragt er den Anwalt. Der räumt entsprechend der vier Jahre, die der junge Mann bei der Firma beschäftigt war, 1820 Euro ein, einen Monatslohn. Gerken wiegt den Kopf: Die Summe sehe etwas krumm aus, man solle sie auf 2000 aufrunden. Der Anwalt stimmt zu, der junge Mann ebenfalls; der Vergleich ist geschlossen.
»Die meisten Kläger«, erzählt Gerken in der Pause bis zur nächsten Güte, »wollen bislang gar kein Urteil in der Sache, weil sie dann in die Firma zurückkehren müssten. Gerade, wenn man ihnen ein Fehlverhalten vorgeworfen hat, fühlen sie sich in ihrer Würde verletzt und wollen dies richtiggestellt wissen. Wir sind eigentlich Mediatoren der Trennung.« Dass 90 Prozent der Kläger Abfindungen erhielten, sei allerdings ein ebenso zäher wie falscher Mythos. Eine - gesetzlich nicht vorgeschriebene - Abfindung erreiche nur jeder Zweite. Richtwert sei ein halbes Bruttogehalt pro Beschäftigungsjahr. »Bei einer potenten Firma ist das drin. In der Baubranche nicht. Wir richten unsere Vorschläge auch an der wirtschaftlichen Potenz der Betriebe aus. Und einem nackten Mann kann man bekanntlich nicht in die Tasche fassen.«

Bei der nächsten »Güte« ist der Kläger 48, verheiratet und hat zwei Kinder. Seit 1997 arbeitete er als Bauleiter, nun wurde ihm betriebsbedingt gekündigt. Neben ihm sitzt sein Anwalt. Links gegenüber Gerken haben Geschäftsführer und Anwalt Platz genommen. »Der Geschäftsführer ist selbst da, schön«, bemerkt Gerken, »wie wir gerade wieder gesehen haben, kommen viele Arbeitgeber zur "Güte" gar nicht mehr, so dass sie zum Sachverhalt nicht befragt werden können.« Der 48-Jährige hat gegen die Entlassung geklagt, weil er eine Chance sieht: Zwar gibt es in Firmen mit nicht mehr als fünf Mitarbeitern (seit 2004 mit nicht mehr als zehn Mitarbeitern) keinen gesetzlichen Kündigungsschutz, aber er weiß, dass einmal pro Woche eine Reinigungskraft kommt. Und damit wären sie sechs. Es müsste eine Sozialauswahl getroffen werden, bei der er nicht schlecht abschnitte.
Der Geschäftsführer, ein kantiger Mann, dem man ansieht, dass er auch selbst zupacken kann, stöhnt auf. Seine Firma, die einmal 80 Mitarbeiter hatte, dann auf 40 reduzieren musste, ist seit Oktober auf fünf Mann runter. Keine Aufträge! Die Reinigungskraft ist von einer anderen Firma »gemietet« - der Kläger habe also keine Chance. Darüber, dass der ihn trotzdem vor Gericht geschleppt hat, ist der Geschäftsführer sauer, weil er ihn schon 15 Monate »mitgeschleift« habe. Das gehe nun nicht mehr.
Nach kurzer Erörterung der Sach- und Rechtslage schlägt Gerken vor, dass die Firma, statt eine Abfindung zu zahlen, das Arbeitsverhältnis um drei Monate verlängert, dem Mann ein »Top-Zeugnis« ausstellt und ihn beurlaubt, damit er sich im Frühling, wenn das Baugewerbe vielleicht wieder aufatmet, aus ungekündigter Stellung heraus bewerben kann. Der Geschäftsführer wird bleich. Er bittet, sich mit seinem Anwalt auf dem Flur beraten zu dürfen. Offenbar geht es hier um Leben und Tod der Firma.
Gerken erklärt inzwischen, dass die Zeiten, in denen eine Abfindung etwas wert war, vorbei seien. Früher hätten viele es nur auf möglichst viel Geld abgesehen; sie hatten schon einen neuen Arbeitsplatz in der Hinterhand und kauften sich von der Abfindung ein neues Auto. Und Arbeitgeber waren spendabel: Wollten sie jemanden los werden, ließen sie sich das etwas kosten, mitunter nach dem Motto: Darf's noch etwas mehr sein? Heute dagegen sei es schwer, einen neuen, gar noch gleich guten Arbeitsplatz zu finden. Für jemanden im Baubereich über 40 oder ungelernt fast unmöglich. »Und bis man Arbeitslosengeld II bekommt, muss man die Abfindung erst mal verbrauchen. Bekommt man dann endlich ALG II, ist die Rente nach vielleicht weiteren 15 oder 20 Jahren Arbeitslosigkeit auch nicht viel höher. Auch jemand, der gut verdiente, riskiert so, zum Sozialfall zu werden - bis zum bitteren Ende.« Deshalb müsse ein älterer Gekündigter überlegen, ob er sich bereits in der »Güte« vergleicht. Oder kämpft. Das Risiko: Er verliert. Wer sich aber gütlich einigen will, sollte nicht nur an eine Abfindung denken, sondern einen Vergleich anstreben, der ihm auf dem Arbeitsmarkt eine Chance lässt. Einen Vergleich, wie ihn Gerken eben vorgeschlagen hat.

Der Geschäftsführer, als er den Verhandlungssaal wieder betritt, ist immer noch bleich. Nein, er kann den Kläger nicht noch weitere Monate beschäftigen. »Überlegen Sie es sich in Ruhe«, sagt Gerken, »sonst geht die Geschichte weiter. Das kann viel Zeit und Geld kosten. Sie können dem Vergleich ja unter Vorbehalt zustimmen und gegebenenfalls innerhalb von 14 Tagen widerrufen.« Der Geschäftsführer willigt ein. Gerken später: »Wir versuchen, den Prozessparteien die Einigung schmackhaft zu machen, weil die finanziellen Risiken eines langen Rechtsstreits für alle hoch sind. 80 Prozent der "Güte" sind Psychologie. Bei der betriebsbedingten Kündigung muss man einerseits die sozialen und psychischen Folgen eines - vielleicht dauerhaften - Arbeitsplatzverlustes bedenken. Andererseits muss man berücksichtigen, dass die wirtschaftliche Lage inzwischen viele Arbeitgeber mit dem Rücken an die Wand gedrängt hat.«
Eine Woche später leitet Gerken Kammertermine. Ihm zur Seite zwei ehrenamtliche Richter, Frau Weinmann und Herr Schwiderrek. Frau Weinmann wurde als selbstständige Unternehmerin von ihrem Arbeitgeberverband entsandt, Herr Schwiderrek als Arbeitnehmer von seiner Gewerkschaft. Wenn ein Urteil gefällt wird, zählt ihre Stimme genauso viel wie die des Berufsrichters.
Bevor die ersten Parteien erscheinen, regt Herr Schwiderrek sich über den professoralen Rat auf, von Dänemark zu lernen. Er weiß nämlich, das jeder, der in Dänemark seine Arbeit verliert, am nächsten Tag eine neue finden könne. Finde er keine, erhalte er 80 Prozent seiner letzten Nettobezüge - und zwar bis zur Rente. »Mit Deutschland ist das seit Hartz IV nicht zu vergleichen.« Gerken sagt, dass er das dänische Modell gern näher kennen lernen würde. Im Übrigen würde angesichts der hohen Sockelarbeitslosigkeit in Deutschland die geforderte weitere Lockerung des Kündigungsschutzes vermutlich nicht einen einzigen Arbeitslosen mehr in Arbeit bringen. Im Gegenteil: Wenn diejenigen, die in Arbeit sind, noch weniger gesetzliche Sicherheit verspürten, würden sie das Geld, das sie verdienen, noch mehr zusammenhalten. Der Binnenkonjunktur ginge es dann wahrscheinlich zunächst noch schlechter.

Im Verhandlungssaal hat inzwischen der Anwalt der beklagten Firma schon mal eine Robe aus seinem eindrucksvollen schwarzen Pilotenkoffer geholt. Die Anwältin des Klägers, jung, blass und in Jeans, hat nur einen statuslosen Rucksack und keine Robe dabei. Sie vertritt einen 44-jährigen Logistiker, dem betriebsbedingt gekündigt wurde. Für die Firma ist der Geschäftsführer anwesend. Nachdem die »Güte« vor einigen Wochen gescheitert ist, soll es nun zur Sache gehen. Aber auch hier wird der Vorsitzende wieder versuchen, einen Vergleich zu erzielen. Der Streit scheint verzwickt. Die Baufirma hat den Logistiker entlassen, weil sie keine eigene Logistikabteilung mehr unterhält. Der Logistiker hat gegen die Kündigung geklagt, weil ein anderer Kollege, bislang ebenfalls Logistiker, inzwischen als Bauüberwacher bei der Firma arbeitet. Er glaubt, nach einer entsprechenden Umschulung könne er das auch. Die Firma hat auf seine Klage mit einer Widerklage auf Schadenersatz geantwortet: Der Kläger habe den Firmenwagen und einen Laptop nicht rechtzeitig zurückgegeben. Auch der Logistiker hat noch Forderungen an die Firma: Er habe 73 Überstunden nicht vergütet bekommen, deren Leistung ja im Übrigen auch dagegen spreche, dass man ihn nicht mehr braucht. Seine Anwältin wirft ein, dass er die Arbeitsmittel gar nicht rechtzeitig zurückgeben konnte, weil er krank war.

Die Rechtslage ist schnell klar: Dem Arbeitgeber steht es frei, wie er seinen Betrieb organisiert. Er kann also auch die Logistikabteilung schließen und die Arbeiten nach außen verlagern. Da der Kläger zum Zeitpunkt der Kündigung der einzige Logistiker in der Firma war, scheidet eine Sozialauswahl aus. Und eine Umschulung zum Bauüberwacher kommt schon deshalb nicht in Frage, weil die Grundausbildung des Klägers für diese Qualifikation nicht ausreicht. Und trotz Krankheit hätte er eine Möglichkeit finden müssen, der Firma das Auto und den Laptop zukommen zu lassen.
Bei dieser Lage ist für den Kläger nicht mehr viel drin. Der Kammer gelingt es, einen Vergleich zu vermitteln, wonach der Logistiker die Kündigung akzeptiert. Im Gegenzug erhält er sein sehr gutes Zeugnis und eine kleine Abfindung, von der die Forderungen der Firma abgezogen werden. Zusätzlich sichert ihm sein früherer Arbeitgeber zu, die Zahl der geltend gemachten Überstunden zu prüfen und schnellstens zu bezahlen.
Obwohl der Kläger nicht viel gewonnen hat, sieht er zufrieden aus. Immerhin hat sich auch die Firma bewegt. Wie Gerken sagt: 80 Prozent sind Psychologie.

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