Fisch, der am Grund lebt

Sarah Kirsch zum 70. Geburtstag

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.
Als Franz Fühmann im August 1977 vom Weggang Sarah Kirschs aus der DDR erfuhr, schickte er ihr aus seiner Einsiedelei in Märkisch-Buchholz ein Telegramm: »Sarah liebe Schwester der Pirol hat die ganze Nacht geweint. Sollen denn hier nur noch die Krähen krächzen?« Und an Sigrid Damm schreibt Fühmann, es habe ihn wie ein Keulenschlag getroffen, er wolle sofort nach Berlin kommen, um mit Sarah Kirsch zu sprechen. Aber er ist selber tief deprimiert von dem, was sich da nach Biermanns Ausbürgerung abspielt. Er hatte, genau so wie Sarah Krisch, zu den Unterzeichnern jener Erklärung von Künstler gehört, die mit den Worten endete: »Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken.« Was darauf folgt, ist eine Welle der Repression gegen die Unterzeichner. Fühmann versteht Sarah Kirsch und die anderen, die angewidert weggehen, und er versteht sie auch nicht. Er selbst wäre nie gegangen. Gern hätte er sie ermutigt, auszuhalten, der staatlichen Dummheit etwas entgegenzusetzen, auch und gerade, weil es so schwer fällt. Aber: »Wie ich sehe, glaube ich, daß es zu spät sein wird; wie ich sie kenne, wird sie nicht mehr zurückwollen ... Wo ist denn die Kälte? Ich weiß, daß es dort eisig kalt ist, aber wie soll man den Zustand bei uns bezeichnen? Vielleicht als den schönen warmen Mief voll Sauerstoffmangel, in dem es sich oft schwerer atmen läßt als in der Eisluft, und dann ist es eine müßige Frage, welcher Tod vorzuziehen ist: Ersticken oder Erfrieren. - Aber ich werde sie zu halten suchen, im Interesse der Vielen (oder Nicht-Vielen) ... denen Kunst etwas bedeutet.« Vergeblich. Natürlich, will man unwillkürlich hinzufügen und erschrickt vor dem Wort. Aber wer glaubte nach Biermann, dem Abschieben des hausgemachten Widerspruchs über die Grenze des eigenen Horizonts, denn noch an Erneuerung des real existierenden Sozialismus, an die Fähigkeit der Staatspartei zur Selbstkorrektur? Fühmann ging bis zu Kurt Hager, um das Schlimmste in dieser Sache zu verhindern. Der fragte ihn, ob er denn einen besseren Sozialismus als den real existierenden habe. Ja, habe er, antwortete Fühmann trotzig, aber da war das Gespräch, das nie begonnen hatte, schon beendet. Und noch einmal Fühmann, weil er der beste, am tiefsten innerlich beteiligte Chronist dieser Zeit war, in einem Brief an Klaus Höpcke: »Man wird dann vielleicht als Sieg etwas feiern, was unser aller Niederlage ist. Ich kenne Leute, die sich über den Weggang Sarah Kirschs freuten und freuen; ich weiß, Sie gehören nicht dazu ... Herr Minister, die schönste Lust an der Wahrheit ist die der Korrektur eines quälenden Irrtums ...« Für die sensible Sarah Kirsch war es ein Schock, sich als Staatsfeindin behandelt zu sehen und das Entsetzen darüber, die Enttäuschung, die Wut, wohl auch zeitweilig Hass auf die, die ihr das antaten, sie sind - so hat man den Eindruck - bis heute nicht ganz von ihr gewichen. Im Westen unterstützt sie die Friedensbewegung, aber polemisiert 1983 gegen das 2. Friedensgespräch der West-Berliner Akademie der Künste wegen der Einladung von »DDR-Schriftstellerfunktionären«. Ebenso lehnt sie 1992 die Wahl in die Akademie der Künste Berlin ab, wegen der Mitgliedschaft ostdeutscher »Staatsdichter und Stasizuträger«. Da bekommt der konservierte Schmerz einen Zug ins Ideologische. Sarah Kirsch gehörte zu denen, die aus der »Lyrikbewegung« Anfang der 60er Jahre hervorgingen. Im Dezember 1962 nahm sie an einem der von Stephan Hermlin organisierten Lyrikabende der Akademie der Künste teil. Diese Abende sind inzwischen zur Legende geworden, auch weil hier Volker Braun oder Karl Mickel ihre ersten Auftritte hatten. Aber das hier demonstrierte neue Selbstbewusstsein einer jungen Dichtung führte bald wieder zu politbürokratischen Attacken, nun gegen Hermlin selbst. Sarah Kirsch begann 1963 am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig zu studieren, ihre Beziehung zu Georg Maurer war eng. Mit einem Satz aus Georg Maurers »Tagebuch eines Lyrikers« ging sie dann auch in den Westen: »Was du an rückwärts verlierst, gewinnst Du an vorwärts. Entwickle dich, Leben ist immer Gewinn.« Nüchterne, ganz unsentimentale Sätze. Sarah Kirsch, die sich dem »Bitterfelder Weg« verweigerte, fand, noch bevor sie die DDR verließ, ihr Exil, das sie bis heute, da sie in Schleswig-Holstein lebt, gegen die beliebige Welt verteidigt: das Meer. Als sie 1977 ging, war - im selben Jahr - bei Reclam der schmale Band »Musik auf dem Wasser« erschienen. Der Titel wurde Lebensmotto: »Am Mittag liegt das Meer am Strand / mit seinen gebogenen gläsernen Schuppen, / der Wind geht über die Klippen an Land./ Am Mittag ritzt ein Boot das Meer / und schiebt die Sonne vor sich her; / das Boot bringt dich und eine Frau./ Am Mittag schlag ich ein Rad, bin ich Pfau.« Dichten heißt die erstarrten Dinge zum Fließen zu bringen. Wasser ist ein Medium der Verwandlung. Wie Quellwasser klar soll die Sprache der Dichtung sein. Und wir blicken bis auf den Grund. In ihren soeben erschienenen »Gesammelten Gedichten« steht als Eingangsgedicht vor uns: »Der Wels ein Fisch der auf dem Grund lebt«. Das Selbstporträt als exzentrischer Fisch. Aber kein Zier-, sondern ein Grundfisch. Virtuosentum des Beharrens in der Tiefe, die ganz schlicht ist und ohne alle Requisiten auskommt. Da verfeinert sich die Wahrnehmung des Schweigens. Doch ganz ohne Musik wäre auch hier das Leben ein Irrtum: »Ich höre Bach und Josephine Baker das ist ein Paar.« Die Freude am Absurden des Zugleich von gänzlich Verschiedenem ist dieser Dichterin anzumerken. Die Worte sind ihr größter Schatz, den sie ungern hergibt. Ihre Poesie kommt aus der Kraft wegzulassen. Dichtung meint bei Sarah Kirsch tatsächlich ein Verdichten von Sprache. Ein tagtägliches Exerzitium der Beschränkung. Aber immer auch die Freude an der bloßen Vorstellung (der am Grunde ruhende Wels träumt von schneller Bewegung!) eines glücklichen Unterwegsseins, das anderes wäre als Flucht: »Gab nichts das mich/ Aufhalten konnte kein Festland/ Hat mich lange beschäftigt. Immer/ Sprang ic...

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