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vy-Metal heiligen ? Hea Hallen

Jesus ist nicht out. Und Christ ist nicht gleich Christ in

  • Lesedauer: 5 Min.

»Gott ist tot- jetzt leben wir« - Maxime der »Jugend von heute«? Oder wird doch der Blick gewagt: Voraus in die Jenseitssphäre, zurück auf religiöse Wurzeln? Annette Gilbert schaute sich um nach Judentum, Buddhismus, Islam und Christentum in Berlin. Heute: Christliche Jugendliche.

»Da gab es keine Omis, keine Orgelmusik oder Choräle aus dem 16. Jahrhundert. Da wurde Heavy-Metal gespielt, getanzt zu Ehren Gottes, und ein Zwanzigjähriger predigte in meiner Sprache«, schwärmt Martin Franz (23) von seinem ersten Gottesdienst in der freikirchlichen Pfingstgemeinde. Das mag fast unglaublich klingen für eine der ältesten Weltreligionen und ist- doch keine Seltenheit mehr in den unzähligen christlichen Gemeinschaften Berlins, egal ob kirchlich oder kirchenunabhängig.

Im Chor TEN SING (Teenager singen) vom Christlichen Verein junger Menschen (CVJM) singt man vor der Verkündigung aktuelle Charts-Hits, und sogar in der Heilsarmee spielt man jetzt mitunter Pop und Rock. Doch hinter dem äußeren Schein von Modernität versteckt sich oft noch immer die uralte Bibel als Nonplusultra des christlichen Glaubens. »Die Bibel ist hochmodern, ist Sprengstoff, der überhaupt nicht hinter Kirchenmauern verstaubt ist. Das ist wie eine Gebrauchsanweisung für mein Leben, so wie es auch eine für den Kühlschrank gibt«, erklärt Thorsten Zippan (23) von der Apostel-Petrus-Gemeinde.

Und das bezieht sich nicht nur auf die Zehn Gebote, sondern auch auf Traditionen wie den »heiligen Stand der Ehe«, keinen Sex vor der Ehe, Ablehnung der Homosexualität und Schutz des ungeborenen Lebens, die Martin verteidigt: »Der Staat ist nur intakt, wenn die Familie intakt ist. Für mich beginnt christliches Engagement dort, wo ich den Leuten in der Gemeinde bei diesen Grundsätzen helfe. Ich spiele da nicht den Moralapostel, lasse die Person so gelten, wie sie ist, aber ich sage ihr, wie es besser wäre«. Sei es in der Bibelstunde, im Chor, im Hauskreis oder beim Jugendtreffen.

Solche Prinzipien stoßen auch in den eigenen Reihen auf Widerstand. Katharina *) (24) ärgert sich zum Beispiel wahnsinnig über solche »Hardcore-Christen«. »Es kann nicht sein, daß Homosexuelle keine Pfarrer werden dürfen. Überhaupt ist es an der Zeit, daß wir einiges in der Kirche ändern und daß wir uns wieder mehr nach außen engagieren. Die Kirche im Osten war zu DDR-Zeiten viel politischer. Jetzt hat sie viele Mitglieder verloren und finanzielle Probleme, kocht im eigenen Saft und versucht nur noch, Leu-

te 'ranzuholen.« Rar scheinen die zu sein, die sich außerhalb der Kirchenmauern engagieren. Gesellschaftspolitisches Engagement hat ohnehin insgesamt nachgelassen. Aber wenn die Kirche ihre Arbeit nur auf Leute mit Taufschein konzentrieren würde, hätte sie für Wolf Richter (21), stellvertretender Vorsitzender der Evangelischen Jugend Berlin, nichts mehr in der Gesellschaft zu suchen: »Wir haben einen Auftrag und eine Verpflichtung gegenüber allen Menschen. Wir sind nicht nur für den Kirchenchor oder die Organisation von Bibelstunden da. Leider

hat die evangelische Jugend viel von ihrem linken Selbstverständnis verloren. Bis 1991 konnten wir uns, der Westverband, teils mit der SPD, teils mit Kräften noch weiter links identifizieren und haben linke Politik gemacht. Seit dem Zusammenschluß mit dem Ostverband hat sich das geändert, weil dieser aus ganz praktischer Erfahrung eine andere Einstellung zu einer sozialistischen Staatsform vertritt als wir « Gleich geblieben sind die christlichen Ziele: Bewahrung der Schöpfung, Friede, Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Der Schwerpunkt

des Engagements liegt in der offenen Jugendarbeit, in Sozialarbeit und Umweltschutz. So plant Wolf jetzt gemeinsam mit den Falken, Jusos und dem Kinderring ein selbstverwaltetes Jugendhaus, offen für alle. In ihm soll der gewaltfreie Umgang miteinander und das Übernehmen von Verantwortung gelernt werden.

Katharina organisiert Gedenkveranstaltungen zum 9 November, versucht, Judentum und Christentum einander näherzubringen, weil beides sie fasziniert. »Ich war mehrmals in Israel. Wie die Juden es schaffen, ihre vielen Regeln zu umgehen und trotzdem nicht zu verletzen, ist unglaublich. Dieser jüdische Humor fehlt mir im Christentum mit seinen starren Dogmen total.« Daniela Giaretta (19) von der Heilsarmee, die zur Unterstützung Bedürftiger sammelt und musiziert, wurde der Auftrag dazu von Gott gegeben: »Er wollte, daß ich ihm als Heilssoldatin diene. Er gibt mir Sinn damit, und ich weiß, wofür ich lebe.« Daß sie in einer Armee dient und Uniform trägt, steht für sie nicht im Widerspruch zu ihren christlich-pazifistischen Grundsätzen, denn schließlich kämpft sie nicht gegen Menschen, sondern gegen Satan.

So kämpfen sie gegen die Übel der Welt und scheinen dennoch selten ein Problem mit der Frage zu haben, warum Gott all dieses Unrecht zuläßt. Katharina gesteht zwar ein, daß sie auch deshalb ohnehin nicht mehr richtig fest an Gott glaubt, so wie früher Andere lassen solche Fragen gar nicht erst an sich herankommen.

Nur bei wenigen gab es deswegen schon einmal eine Krise. Beispielsweise während des Golfkrieges. »Da habe ich Gott nicht mehr verstanden. Während die mir hier von Gott erzählten, wurden da Leute erschossen«, erzählt Frederik Kraft (22) von TEN SING. Zum Glauben zurückgebracht hat ihn das Argument, daß Gott den Menschen einen freien Willen gegeben hat und sie nicht zwingen kann, ihm zu vertrauen und nach seinem Willen zu leben. »Und außerdem reichte es mir nicht, nur an mich selbst zu glauben.«

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