Dorf - was ist das?

Horst ist ein Dorf in Vorpommern, zwischen Greifswald und Grimmen gelegen.

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 10.5 Min.
Es gibt Fragen, die man sich nicht stellt; man glaubt, die Antworten zu kennen. Plötzlich kennt man die Antworten nicht mehr, und siehe, die Fragen haben es in sich. Beispielsweise: Was ist ein Dorf? Vor kurzem hätte man noch gesagt: eine Ansiedlung von Menschen, die gemeinsam oder einzeln landwirtschaftliche Produktion betreiben. Heute formuliert man spontan: eine Ansiedlung von Menschen, die keine oder jedenfalls kaum noch landwirtschaftliche Produktion betreiben. Aber was treiben sie dann? Wir fahren die B96 zwischen Greifswald und Stralsund, um irgendwo auf halber Strecke Richtung Grimmen abzubiegen. Ein Dorf stößt an das andere, jedes aufgeräumt wie der Oktobertag, der uns noch einmal mit Sonne beschenkt, kleine Dörfer, die wir gesehen haben, sobald wir, immer der Straße folgend, die Ortsausgangsschilder hinter uns lassen. In den letzten zehn Jahren, erzählen sie, waren die Leute hier damit beschäftigt, ihre alten Häuser in Stand zu setzen oder neue Häuser zu bauen, schöne, solide Fertighäuser, wie man sie in Katalogen findet. Gut, doch was treiben die Leute heute? Wo sind sie, da sie sich nicht zeigen? Auch Horst wirkt bewohnt und zugleich verwaist. Auffällig gepflegte Anwesen(heit). Und doch ist Horst anders als die Dörfer, die wir bis hierher durchquerten. Es gibt so etwas wie ein Zentrum: Kirche, Gemeinderat, Kindergarten - vom Spielplatz klingt Lachen zu uns herüber, macht das kleine Areal, auf dem zwei Autos parken, lebendig. Horst war früher ein Zentraldorf. Verwaltungstechnisch gruppieren sich darum die Dörfer Wendorf, Lager, Gerdeswalde und Segebadenhau. In den 50er Jahren, erfahren wir später, gab es in Horst eine Molkerei, eine Tischlerei, einen Stellmacher, drei Schuster, drei Friseure, drei Bäcker - Bäcker Schabows Torten waren die Sachertorten der kleinen Welt, die bei keinem Geburtstag, keiner Hochzeit und bei keinem Leichenschmaus fehlten. Kein einziges Geschäft existiert mehr. Kein Bäcker, kein Gasthof, nicht mal der Konsum, in dem morgens das Brot, mittags das Gemüse, abends das Fleisch angeliefert wurde - viele Gründe, über den Tag verteilt, sich zu treffen und zu klönen. Welche Gründe gäbe es, heute aus dem Haus zu gehen? Die erste Genossenschaft in Horst war eine LPG vom Typ I - die Bauern brachten nur ihr Land ein, das Vieh behielten sie auf den Höfen. Dies blieb über Jahre Status quo, Indiz dafür, dass die hiesigen Bauern keineswegs zu den Ärmsten gehörten und ihre Begeisterung für die Kollektivierung zügelten. Anders ihre Töchter und Söhne: Im Wendejahr gab es zwei LPG, eine »Pflanze« und eine Tierproduktion, mit 120 Beschäftigten. Übrig geblieben sind davon eine Ein-Mann-Putenzucht sowie zwei kleine Agrarbetriebe, in denen 12 Leute arbeiten. Was machen die anderen? Wenigstens einige von ihnen sind an diesem Vormittag im Kapellengarten zu Gange. »Erwarten Sie keine große Sache«, warnt Pastor Fred Burmeister, mit dem wir uns verabredet haben. Dann wird es doch ein Riesending, das der ehemalige Maurer und Meliorationstechniker Klaus Dobs freundlich vor unsere Kamera hält... Aber langsam, der Reihe nach. Der Pastor ist der erste Mensch hier, den wir zu Gesicht kriegen. Nach den langen, kollernden Rrrrrs, die tags zuvor durchs Telefon rollten, hatten wir ihn uns anders vorgestellt: behäbig, bäuerlich-schwerfällig. Burmeister ist alles andere: Ende 40, energischer Gang, kurzer graumelierter Vollbart, farblich passendes Jackett über einem schwarzen Rolli... Er kam 86 aus Greifswald nach Horst. In den allerletzten Ort, in dem er hätte leben wollen. Da er Dinge, die Überwindung kosten, ab und zu absichtsvoll auf sich nimmt (»Gott wird sich dabei was gedacht haben«), lebt er jetzt seit fünfzehn Jahren hier und fühlt sich inzwischen heimisch. Mehrere glückliche Fügungen: Schon zu DDR-Zeiten brachte er die Gemeinde dazu, mit der Restaurierung der Kirche zu beginnen, womit er sich sofort den Respekt der Gemeindemitglieder verdiente, die ihn seither teilhaben lassen an all den skurrilen, traurigen, drögen und hoffnungsvollen Geschichten, die das Leben hier ausmachen, ihm jene intimen Histörchen vertellen, die tief im Heimatboden wurzeln und die man kennen muss, um dazu zu gehören. Zum anderen hat Horst sich verändert. Dies wäre keine neue Nachricht, wenn Burmeister die Veränderungen nicht differenziert bewertete. Während wir in seinem Kleinbus zum Kapellengarten fahren, leiht er uns gleichsam seinen Blick. Es ist ein durchaus liebevoller, ja, sogar ein stolzer Blick, alles, nur kein Blick zurück: Was vorbei ist, ist vorbei, so großartig war es ja auch nicht, nicht alles, was neu ist, ist schlecht, so trostlos ist die Lage nicht! Viele Genossenschaftler, erzählt er, vor allem Handwerker, also Männer, hätten heute wieder Arbeit. »Sie haben ja etwas gelernt, sie müssen hier nicht rumsitzen.« Sie seien in Baufirmen beschäftigt, die in Berlin oder Hamburg arbeiten. Unter der Woche allerdings seien die Männer unterwegs, wenn sie heimkämen, seien sie fertig - ein Verlust für die Dorfgemeinschaft. Andererseits würden sich in Horst zunehmend Städter ansiedeln. Studenten, Künstler, Landschaftsgestalter, die zwar tagsüber ebenfalls außerhalb einer Arbeit nachgingen, aber doch frischen Wind mitbrächten. Wenig später bremst der Pastor: Vor uns liegt der Kapellengarten, an diesem Morgen der einzige Ort, an dem wir Horster treffen können. Der Garten ist eigentlich ein Feld. Ein Feld für Visionen, sagt Burmeister. Vor sieben Jahren habe die Kirchgemeinde 2,6 Hektar Land abgegeben, damit Arbeitslose die Chance hätten, ihr Leben wieder mit Sinn zu erfüllen. Sicher doch, die fahrenden Männer. Die anderen, die zu Hause sitzen. Die Männer und vor allem die Frauen, die sich heute einsam fühlen. Über zwanzig Prozent seien arbeitslos, sie würden ihre Arbeit vermissen. »Sie können mit Tieren und Pflanzen umgehen, doch solche Arbeit gibt es nicht mehr.« Was sie am meisten bräuchten, so Burmeister, seien schöpferisches Tun, Gemeinschaft und Anerkennung. Deshalb der Kapellengarten, sie können ihn gemeinsam bestellen. Nach dem Schrebergartenprinzip: Angebaut wird alles, was wächst und - sich weitergeben lässt. Denn der Pastor ist überzeugt, Arbeit ist nur dann Arbeit, wenn ihre Früchte gebraucht werden. Er hat einen Förderkreis von etwa 40 Leuten gewonnen, die für die Beschaffung von Werkzeug und Pflanzgut wöchentlich fünf Mark spenden, wofür sie an der Ernte partizipieren: »Gebraucht wird auch die Freude, zu geben und dafür überrascht zu werden.« Obwohl die Sonne sich Mühe gibt, weht über das freie Feld ein steifer, eisiger Küstenwind. Zwischen Obstbäumen, Dahlien und Zwiebeln bereiten ein älterer Mann, ein schlaksiger Junge und eine Frau Mitte vierzig gerade ein Beet vor, in das sie, wenn sie fertig sind, Erdbeerpflanzen setzen werden. »Anfangs waren wir viel mehr«, erzählt die Frau, die kurz pausiert, »alle haben zugepackt. Doch lange hält das keiner durch, ich meine, wenn es dafür kein Geld gibt.« Arbeit impliziert offenbar nicht nur Sinn, sondern auch Entlohnung. In den zurückliegenden Jahren gab es einige ABM, »gut und gerne 50 Leute kamen damit über die Runden«. Inzwischen bestimmt auch hier der Rotstift, und die Frau, Erika Lindow, gehört zu denen, die trotzdem kommen, ganz ohne Penunse, freiwillig. »Was soll ich vormittags sonst machen? Es reicht, wenn mein Mann zu Hause ist. Er war Traktorist, bis man ihn mit Alkohol am Steuer erwischte, das wars dann mit der Fahrerlaubnis. Er kümmert sich um das Mittagessen.« Der Junge ist übrigens ihr Sohn. 600 Sozialstunden muss Tibor im Garten ableisten. »Gut so«, bemerkt Burmeister, »kann er nicht mehr auf dumme Gedanken kommen.« Der Junge nickt einsichtig. Der ältere Mann ist besagter Klaus Dobs, der den Kohlrabi für uns schultert. Dobs bezieht Sozialhilfe. Damit sie ihm nicht gestrichen wird, arbeitet er hier täglich vier Stunden, für jede Stunde bekommt er zwei Mark. Vier mal zwei, das macht acht Mark, dafür kann er sich was leisten. Helga Jesse ist nicht im Kapellengarten. Sie erwartet uns bei sich zu Haus; der Pastor ist so gut wie ein Dietrich, er kann uns fast jede Tür öffnen. Wobei Helga Jesses Tür ohnehin weit offen steht. Und da wir fragen, was ist ein Dorf: ein Dorf ist Helga Jesses Küche! Vielmehr alles, was man sich so vorstellt: Pudding, der auf dem Herd gerührt wird, Obst, zum Wecken vorbereitet, ein Teller voller Wurstbrote, den die Hausfrau auf den Tisch stellt. Helga Jesse ist Kirchenälteste und dörfliches Urgestein. In Jager lebten schon ihre Eltern. Die Mutter Else ist 96, der Vater starb in diesem Haus. Er besaß einst 20 Hektar, dann kam der sozialistische Frühling. Helga Jesse gießt Kaffee ein: »Vater hat die DDR gehasst!« Sie nicht, »man muss sich einrichten«. Ihr Platz war der Rinderstall, bis zuletzt. Anspruch auf 360 Mark Rente. So war Frau Jesse eine von denen, die den Garten urbar machten. Später bekam sie dort ABM, »ich musste ja noch arbeiten, auch weil mir die Decke auf den Kopf fiel«. Natürlich ist die Decke Frau Jesse nicht wirklich auf den Kopf gefallen. Das flache Fachwerkhaus der Familie hat ein neues, prächtiges Reetdach. Sie hat dafür Kredit aufgenommen, die ersten Schulden ihres Lebens. »All die Jahre konnten wir an den Häusern kaum was machen, jetzt bekommen wir im Rahmen der "Dorferneuerung" immerhin 40 Prozent Fördermittel.« Auch sonst ist Frau Jesse nicht der Typ, der nichts mit sich anzufangen wüsste. Sie füttert eine Kuh, ein Kalb, sechs Schweine, 75 Enten und 50 (vorerst noch) glückliche Gänse. Zudem ist sie für Burmeister als »Älteste« eine der wichtigsten Stützen - ob im Frauenkreis oder beim Ausrichten eines Gemeindefestes. Neulich war sie bei einer Demo gegen Rechtsextremismus in Greifswald, »der fängt schon an, wenn manche sagen, wir brauchen hier nen niegen Hitler«. Helga Jesse braucht ihn nicht. Sie versteht nicht, wenn viele jammern, früher sei es schöner gewesen, »von wegen Zusammenhalt und so, wir können doch zusammenhalten, es gibt keinen, der uns hindert«. Beim Familienfoto vorm Haus ist nicht mehr zu übersehen: Jesses Haus ist das Schmuckstück der ganzen Zeile. Und doch schaut Helga Jesse auch stolz auf die schmucken Häuser der Nachbarn, »fast alles Zugezogene«. Sie versteht sich gut mit ihnen. »Ich bin Jahrgang 44«, sagt sie. »Vor der Wende zogen die Jungen weg, ich war hier eine der Ältesten. Jetzt gibt es wieder Jüngere. Sie bauen was auf und bringen was mit.« Was bringen die Neuen mit? Die von Woedtkes ihre drei Kinder. Auch Grit von Woedtke lässt uns in ihr Haus, ins Wohnzimmer mit den großen Fenstern, vor denen sich Gartenland erstreckt, grün, so wie es eben wächst. Von Woedtkes zogen aus Greifswald hierher, weil die Kinder auf dem Land, wo es »weniger Autos und Hunde, dafür Störche und Bussarde gibt«, freier und sicherer aufwachsen können. Wegen der Kinder, erzählt Grit von Woedtke, die zwei Tage in der Woche in Stralsund Apothekerin ist, hätten die Neuen in der Kita einen Aufstand angezettelt: »Wir wollten flexible Öffnungszeiten, die haben wir durchgesetzt. Sonst wäre hier immer noch alles beim Alten.« Von Woedtkes leben gern in Horst. Das Stadtleben vermissen sie nicht. Sie sind mit ihren Nachbarn befreundet, ebenfalls Zugezogene. Ja, man sei mehr unter sich, eine Frage des Alters sicherlich; der Kontakt mit den alten Horstern beschränke sich auf die Kirchengemeinde. Die mache viele Angebote: Chor, Frauenkreis und Töpferkurs und eine gute Kinderarbeit. Und wenn die Kinder größer würden, hätten sie hier die Junge Gemeinde, einen Jugendklub und den Sportverein... Was bringen die Neuen mit? Besrsters ihre Islandpferde. Atemberaubend schöne Tiere, mit denen Alexander Besrster in der Koppel arbeitet. Er und sein Vater sind 92 aus Düsseldorf nach Horst gezogen, Besrster senior besaß dort eine Elektromaschinenbaufirma, in der auch der Junior arbeitete. Bis der dazu keine Lust mehr hatte, die Pferde aus dem Westerwald nach Vorpommern verfrachtete, wo das Land noch billig war, und die Leidenschaft zum Beruf machte. Besrsters züchten und verkaufen, geben Reitunterricht, und man kann einen Reiturlaub bei ihnen buchen - für den sie auf ihrer Website Pensionen der Region empfehlen. Die Region braucht den Tourismus, und ihr Reiterhof ist mittlerweile eine etablierte Adresse. Was bringen die Neuen mit? Carola Morgenstern ihr Wissen. Sie ist Landschaftsarchitektin. Ihr Büro hat sie in Greifswald, seit 96 wohnt sie in Wendorf. Sie rief eine Gruppe ins Leben, die versucht, den Traum von Rio, die Agenda21, im vorpommerschen Horst umzusetzen: Nachhaltigkeit sowohl im sozialen, als auch im ökonomischen und ökologischen Bereich. Arbeitsplätze konnte die Gruppe, in der fünfzehn Leute mitmachen, bisher leider nicht schaffen. »Es ist einfach kein Geld da, traurig! Also wird erst mal viel geredet, doch wenn man über etwas redet, lässt sich doch einiges umsetzen: Wir haben Ahorn und Vogelbeerbäume gepflanzt und ein neues Wegekonzept entwickelt. Wir wollen den Dorfplatz wieder beleben. Das scheiterte bisher daran, dass es für die neue Abwasserleitung, die unter der Straße verlegt werden soll, keine Mittel gab - jetzt sind sie bewilligt. Und dann wird es hier vielleicht auch wieder einen Bäcker geben, möglicherweise auch eine Kneipe. Das wünsche ich mir, weil ich hier lebe und es deshalb schön haben möchte.« Was bringen die Neuen mit? Im Grunde ist es das, was sie lieben, und sie lieben, was sie hier finden: grünes Refugium, Raum für Kinder, Inspiration für Tüftler und Künstler. All das, was viele alte Horster, für die das Dorf Lebensgrundlage war, vielleicht noch zu wenig schätzen können. Das Dorf ändert seinen Charakter. Pastor Burmeister umreißt ihn als »interessante Gemengelage - ohne Fazit«. Aber ganz zum Schluss spricht er doch von einer Kultur, die unte...

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