Bockwurstglasetiketten und ein Ticket von 1893

»Fundsache Lesezeichen«: Eine Ausstellung im KulturGut Marzahn zeigt, was zwischen Buchseiten liegt

  • Steffi Bey
  • Lesedauer: 3 Min.
Man nimmt, was greifbar ist: Fahrkarten, Fotos, Etiketten, Notizzettel, Lottoscheine oder Gebrauchsanweisungen. Was draufsteht, spielt keine Rolle. Hauptsache, es passt zwischen zwei Buchseiten. Wie einfallsreich die Leute sind, dokumentiert jetzt eine Ausstellung in der »Sozialen Bücherstube« im Dorf Marzahn. Gezeigt werden rund 1000 »Lesezeichen«. Die Vitrinen sind prall gefüllt. Da liegen uralte, vergilbte Zeitungsausschnitte neben Handzetteln zum Fahrradaufbau, hauchdünnen Röntgenbildern von Zahnwurzeln und einem Merkblatt von Dr. med. Müller zur Anzeige von Geschlechtskrankheiten. »Unglaublich, was alles zum Lesezeichen wird«, sagt Jochen Päßler. Er ist der Leiter der »Sozialen Bücherstube«, einem Projekt der Agrarbörse Deutschland Ost e.V., und kam mit seinen Mitarbeitern auf die Idee, die Hinterlassenschaften in den gespendeten Werken aufzuheben. »Wir waren alle mal ein Lesezeichen«, steht auf einem Ausstellungsblatt. Gemeint sind Fahrkarten von damals und heute. Die älteste, aus grünem Papier gedruckt, war einst bis zum 31.12.1893 gültig. Sie galt für die Stadt oder Ringbahn und durfte nur ohne Fahrtunterbrechung benutzt werden. Auch die aus DDR-Zeiten bekannten schmalen Streifen, die man sich damals für zehn oder zwanzig Pfennig aus einer Box zog, liegen aus. Die Vitrine daneben sollte sich jeder Besucher ganz genau anschauen. Denn wer sich auf einem der Fotos wiedererkennt, bekommt eine Buchprämie, steht da geschrieben. Das Team der Bücherstube zog auch historische Kuriositäten aus der Literatur. Dazu gehört eine Wahlordnung vom 19.01.1919. »Sie ist "idiotensicher" verfasst«, sagt Jochen Päßler. In einem anderen Schaukasten liegt eine Speisekarte aus einem Kinderkurheim, auf der zum Frühstück Brötchen, Knäckebrot und Möhren angekündigt werden. Gleich daneben sind kunterbunte Etiketten platziert: von Bockwurstgläsern, Schokoladen-Tafeln, Samentüten und Wollknäueln. Aus großen Fachbüchern und Bildbänden stammen Theaterkarten und -programme. Zu sehen sind eine Einladung für den »Admirals Palast« an der Friedrichstraße und ein Ticket für eine »HO-Silvesterparty« aus den 80er Jahren. Daneben liegen Lottoscheine, Briefe und Karten. An großen Wandtafeln hängen hand- und maschinegeschriebene Zettel, die zu DDR-Zeiten zur Buchprämie für besondere Leistungen gelegt wurden: »...für gewerkschaftliche Einsatzbereitschaft, ...für den Kampf um die Millionen...«. »Es wäre schade, diese persönlichen Lesezeichen einfach wegzuschmeißen«, erklärt Päßler. Schließlich sei das auch ein Stück Geschichte. Die Bewahrung von kulturellem Erbe gehört zu den Aufgaben der »Sozialen Bücherstube«. Seit 2001 gibt es das Projekt, dessen Bestand inzwischen 40000 Bücher zählt. Alles geschenkte Werke, die, wenn nötig, repariert und gesäubert werden. Für Kranke, Ältere und Behinderte bietet das Team einen Bringe-, Abhol- und Vorlesedienst. »Soziale Bücherstube«, KulturGut Alt-Marzahn 23, Tel.: 56294284, Ausstellung »Fundsache Lesezeichen« bis Ende Juni, geöffnet Montag, Dienstag, Donnerstag 8-14 Uhr, Mittwoch 12-20 Uhr.
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