Mit allen Sinnen die Welt erkunden

Eine Pankower Kita mit nur 17 Kindern setzt auf Montessori-Pädagogik mit Kuschelfaktor

  • Kerstin Petrat
  • Lesedauer: 6 Min.
»Bildung von Anfang an« lautet ein oft gehörter Satz, wenn es um Konsequenzen aus der PISA-Studie geht. Bildung beginne nicht erst in der Schule, sondern schon früher. Wie erfolgreich dieser Anspruch in deutschen Kindergärten umgesetzt wird, will ND in einer kleinen Serie in den nächsten Wochen und Monaten berichten.
Selbstgemalte Frühlingsblumen aus Fingerfarben verzieren die Fenster, dunkelrote Vorhänge und behagliches Laminat schaffen Wohnzimmer-Atmosphäre und eine riesige Couch lädt zum Lümmeln ein. Die Erdgeschosswohnung in der Toblacher Straße in Berlin-Pankow sieht nach Familie mit kleinen Kindern aus. Falsch geraten: Eine Kita beherbergt hier 17 Kinder. Die Kuschelstimmung gehört zum Konzept der Einrichtung. »Die Kinder fühlen sich in familiärer Atmosphäre geborgen«, erläutert Kita-Leiterin Bärbel Becker-Hofert, »das ist ein großer Pluspunkt einer kleinen Kita.« Das leuchtet ein.
Jeden Morgen um 9 Uhr versammeln sich die Kinder im extra abgedunkelten Toberaum zum Morgenkreis. Ehrfürchtig beobachten sie an diesem Tag einen roten Plastiknoppen. »Taler, Taler, du musst wandern, von der einen Hand zur andern« singen die Erzieherinnen zusammen mit den älteren Kindern. Vorsichtig reichen die Kleinen den als Taler fungierenden Plastiknoppen aneinander weiter, bei den Kleinsten helfen die Erzieherinnen. Der Morgenkreis stimmt auf den Tag ein und verstärkt das Gruppengefühl.
Dass es hier entspannt zugeht und relativ ruhig ist - davon profitieren sensible Kinder besonders. Der Lärmpegel und die Reize einer großen Kita würden sie schnell überfordern. Auch die Eingewöhnung geht hier individuell vonstatten. »Die Kinder fühlen sich bei uns schnell heimisch«, versichert Becker-Hofert. Wie lange eine Mutter ihr Kind begleitet, entscheidet sich von Fall zu Fall. Manche Kinder brauchten nur einen Tag, andere sechs Wochen, um sich ohne Eltern sicher zu fühlen.
Vormittags geht es auf den Spielplatz. Hier zeigt sich ein Manko einer kleinen Einrichtung - die Erdgeschosswohnung hat keinen eigenen Garten, deshalb müssen die Kinder auf einen öffentlichen Spielplatz ausweichen. Der ist nicht abgezäunt, es gibt Hunde, und eine Straße muss überquert werden. Die Kinder stört es nicht. Mascha hat sich ein paar Meter von der Gruppe abgesetzt. Sie setzt vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die wackelige Holzbrücke. Ihre kleinen Ärmchen streckt das 17 Monate alte Mädchen ganz durch, um das Geländer zu erreichen. Ein paar Augenblicke später steht es auf der Hängebrücke der Spielplatzburg - und strahlt übers ganze Gesicht. Selbstständigkeit schreiben die Pädagoginnen ganz groß.
»Wir trauen den Fähigkeiten der Kinder«, erläutert Kita-Leiterin Bärbel Becker-Hofert, »eingegriffen wird nur, wenn die Sicherheit gefährdet ist.« Hilf mir, es selbst zu tun« - so lautet das Konzept der Montessori-Pädagogik. Daraus haben die Erzieherinnen viele Anleihen genommen und sie mit anderen Ideen gemischt.
Die kleine Mascha kommt vorsichtig von der Holzburg zurück, setzt sich in den Rindenmulch und bemalt damit ihr Gesicht. Die Größeren spielen Fußball und beobachten eine Amsel auf der Wiese. Die dreijährige Tessa kann sich später beim Essen noch an den Namen des Vogels erinnern - Kinder erspielen sich am liebsten das Wissen, sagt der nach der italienischen Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870 bis 1952) benannte Ansatz.
Kurz vor zwölf Uhr gibt es Mittagessen. Die Kinder zwischen einem und fünf Jahren sitzen an zwei Tischen und fassen sich an den Händen. »Piep Piep Piep, Guten Appetit!« rufen die Größeren durch den Raum. »Die Kinder lieben solche Rituale«, erklärt die 43-jährige Becker-Hofert, »ein differierender Tagesablauf wäre nicht gut. Der äußere Rahmen gibt Sicherheit.« So liegen die Kinder beim Schlafen immer an der gleichen Stelle, essen gemeinsam, räumen die leeren Teller ab, gehen immer zur selben Zeit raus - die Tagesstruktur ist vorgegeben. »Offene Strukturen würden die Kinder überfordern«, ist sich Becker-Hofert sicher.
Essen können fast alle Kinder alleine, auch die ganz kleinen. Winzige Hände schieben Nudeln und Gemüse in kleine Münder. Nach dem Essen sind T-Shirts, Hände und Gesichter mit Tomatensauce und Quark beschmiert. »Die Kleinen gehen voller Neugier auf die Welt zu, wollen ausprobieren«, erläutert Becker-Hofert gelassen, »wir begleiten sie auf diesem Weg, fördern ihre Entdeckungsfreude und Eigenaktivität.« Dazu gehört nicht nur, dass der Spaß beim Essen wichtiger ist als ein sauberes T-Shirt.
Auch Bildung wird über alle Sinne vermittelt. Das Berliner Bildungsprogramm fließt ins Konzept mit ein. Die Kita ist ein Projekt der Firmen Prenzl Komm gGmbH und Albatros gGmbH, die soziale Dienstleistungen wie Familienhilfe oder Arbeit mit älteren Menschen anbieten. Von dort kommen regelmäßig Therapeuten, die mit den Kindern arbeiten: Montags macht eine Tanztherapeutin Sport mit den Kleinen, dort werden Tiere nachgeahmt oder Bälle geworfen und gefangen. Dienstags malt eine Bildhauerin mit den älteren Kindern. Dabei werden auch schon mal die eigenen Körper mit Lebensmittelfarbe bemalt. Mittwochs kommt eine Ergotherapeutin, um die motorische Entwicklung der Kinder zu beobachten und gegebenenfalls zu korrigieren. Auch Montessori-Material wie Buchstaben aus Sandpapier regen zum eigenständigen Lernen an.
Wenn die Knirpse mit Legosteinen, Puppen oder der sehr beliebten Holzeisenbahn spielen, mischen sich die Pädagoginnen selten ein. »Wenn ein Kind mal keine Idee hat, tolerieren wir auch, dass es sich mal langweilt«, sagt Becker-Hofert. Animation und Entertainment für die Dreikäsehochs gibt es hier nicht. Die Kinder werden zum freien Spielen begleitet, aber nicht angeleitet. »Wir beobachten sie und versuchen, ihnen Anregungen für ihr Spiel zu geben«, sagt Becker-Hofert.
Zum Konzept gehört auch, dass die Gruppe altersgemischt ist. Morgenkreis, Spielen und Essen machen alle Kinder zusammen. Die Vorteile: Nicht nur die Kleinen schauen sich bei den Großen Können ab. »Die Großen lernen auch von den Kleinen, Rücksicht zu nehmen«, erklärt Becker-Hofert. Dazu trägt auch ein Integrationskind bei, das hier ganz selbstverständlich zur Gruppe gehört.
So viel Kuschelstimmung und Betreuung hat ihren Preis: Wenn eine Erzieherin krank wird, gelangt die Personalkapazität schnell an ihre Grenzen. Dafür spielen und lernen die Kinder genauso geborgen wie zu Hause in der Erdgeschosswohnung mit Wohnzimmeratmosphäre.


Hilf mir, es selbst zu tun!
Montessori-Pädagogen achten Kinder als vollwertige Menschen, die bereits alles in sich tragen, um selbstständig zu werden.
Wichtig ist die Freiarbeit. Die Kinder wählen mit Unterstützung der Erzieher selber aus, womit sie sich beschäftigen. Das führt zu einer Disziplin, die von innen kommt.
Zum Lernen gibt es spezielles Montessori-Material: Der rosa Turm besteht aus verschieden großen, stapelbaren Quadern; zehn rote Stangen, deren Länge jeweils um zehn Zentimeter zunimmt, bringen das abstrakte Dezimalsystem spielerisch näher.
Neben Montessori-Kindergärten gibt es auch entsprechende Schulen. Viele Ideen aus dem Montessori-Konzept gelten heute als Standard, und werden selbst in Einrichtungen umgesetzt, die sich nicht ausdrücklich auf Montessori beziehen.
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