Auge der Stille

Anger-Museum Erfurt: »Exil und Moderne«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Die schönsten Texte über den Expressionismus sind von Theodor Däubler. Weil er, wenn er über den Expressionismus schrieb, über sich selbst schrieb. Kritik meint hier unbedingte Zu- oder Abwendung, ein geteiltes Geheimwissen um das Schöpferische. Da, wo das Ich sich seine eigene Welt schafft, sind alle Widerstände belanglos: »... jede gut getroffene Farbe ist ein Sieg über das Chaos. Jeder Buntblitz eine Warnung an den Philister, er solle sich nicht in seiner Welt allzu weich einbetten.« Alle moderne Kunst geht ins Exil, in eine Fremde. Die Kontinuität von Tradition wird aufgekündigt, was bleibt sind »Entscheidungskristalle« (Däubler). Der schöne Schein lügt, die Wahrheit in dieser Welt ist eine hässliche, und modern wird Kunst, wenn sie das Erschrecken darüber in einen Ausdruck bringt, der fasziniert. Mit dem Expressionismus wird Kunst zum Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft und den faulen Frieden, den sie sich vor die Augen bindet wie einem zu Exekutierenden die Binde, mit der ihm ein letzten Blick in die Gewehrmündungen erspart bleiben soll. Das ist die Wirklichkeit des Humanen, wie sie der Expressionismus erkennt. Die Ausstellung »Exil und Moderne« im Erfurter Anger-Museum dokumentiert auf besondere Weise den Exilcharakter aller moderner Kunst. Denn was hier versammelt ist, stammt aus der Sammlung der Washington University in St. Louis. Wie kommt die Avantgarde in die amerikanische Provinz? Nun ja, richtig dort angekommen ist sie wohl bis heute nicht. Die Ölmillionäre kaufen immer noch neoklassizistische Reiterbilder für den Platz überm Sofa. Um so bemerkenswerter ist das Zustandekommen dieser Sammlung. Ein Glücksfall hat die fünfzig Gemälde, Grafiken und Skulpturen ins Erfurter Angermuseum gebracht: Man baut in St. Louis gerade ein neues Museum, und so lange sind die Werke ausgeliehen. Das Anger-Museum selbst war einmal im Besitz einer berühmten Expressionisten-Sammlung, die zu besichtigen Samuel Beckett im Januar 1937 extra anreiste, wenige Monate vor ihrer Beschlagnahmung als »entartete Kunst«. Ein junger Hamburger Kunsthistoriker, Horst W. Janson, der 1935 in die USA emigriert war, baute diese Sammlung moderner Kunst zwischen 1944 und 1948 an der Washington Universität St. Louis (Missouri) auf - auch dort stieß er auf heftigen Widerstand, als er die massenhaft vorhandenen Historienschinken aus dem Fundus verkaufte, um Picasso, Feininger, Klee, Miró, Matisse, Beckmann oder Max Ernst nach Missouri zu holen. Lange konnte sich Jansen auf seinem Posten nicht halten, die von ihm begonnene Sammlung aber blieb - und wird heute sogar Stück um Stück auch um amerikanische Vertreter der Moderne wie Jackson Pollock erweitert. Eines der provokantesten Bilder der Ausstellung ist zweifellos Max Beckmanns »Künstler mit Gemüse« von 1943. Beckmann hatte von 1937 bis 1945 in Amsterdam im Exil gelebt. Vier Männer sitzen um einen Tisch und wirken bewusst harmlos. In den Händen halten sie unauffällige Dinge: eine überdimensionierte Mohrrübe darunter. Sind diese Männer gefährlich? Für eine fanatische Ideologie, die einen Vernichtungskrieg führt, gewiss. Es ist die unzeitgemäße Existenz des Künstlers, seine Beziehung zum Elementaren, die ihn zum Außenseiter macht. Und notorische Außenseiter sind in Zeiten, wo marschiert wird, per se subversiv. Man kann das Bild auch gegenteilig deuten: als Kapitulation der Kunst, die in Zeiten, wo geschossen wird, ohnmächtig mit nichts als buntem Gemüse in der Hand da steht. Oder auch als ein ironisches Maskenspiel, Entzauberung pseudoheroischer Heldenbilder. Seht her, wir haben nur Gemüse in der Hand, aber dagegen seid ihr wehrlos, wie gegen alles Echte und sei es noch so profan! Das Wahre und Echte wird diesen mörderischen Größenwahn überdauern, da ist sich die in provozierender Gelassenheit zusammensitzende Runde sicher. Sie alle werden vom zeitlosen Licht einer Kerze erleuchtet - und man hat hier den Eindruck, sie leuchtet nicht nur für, auch durch die um sie herum Sitzenden. Ganz anders im Ausdruck ein weiteres großes Bild dieser Ausstellung: »Das Auge der Stille« von Max Ernst, gemalt 1943-44. Dieser Malerphilosoph steigert sich in eine Traumwelt hinein, die ganz und gar nicht erbaulich ist. Im Grabe würden sich die guten Bürger von St. Louis umdrehen, sähen sie die Neuerwerbung ihrer Universität, sagt einer, der dabei war. Max Ernst malt dieses Grab: eine Welt, die mit einer Schicht von Moder überzogen ist. Diese schöpft dann mitunter fantastische Formen, die jedoch nicht verbergen können, dass wir das Reich des To...

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