Nackt ist hier nur ...
Theatertreffen Berlin I: Thalheimers Hamburger »Lulu»
Dass jemand Mensch ist, erfährt er durch andere Menschen. Lulu erfährts nie, statt der Menschen gibt es nur Männer. Die treten bei Michael Thalheimer auf als mechanisch bewegte Glied-Puppen und öffnen sofort den Gürtel: Man muss Lulu eben feste feiern, so lange die Hosen noch fallen. Nacktheit: längst eine blöde Bühnen-Peinlichkeit. Hier nicht. Hier marschiert, erschreckend lächerlich, ohne jede Körperlichkeit, die Unterleibstandarte Thalheimer.
Nach jeder Szene wird ein Mann tot sein, gestorben wird meist sitzend; so hocken sie denn da wie Figuren aus dem Handpuppentheater vom Dachboden, wo jene Kindheit verstaubt, in der ein Kasper noch als Ehrenmann galt.
Eine »Monstretragödie« nannte Frank Wedekind seine »Lulu«, das Thalheimer am Hamburger Thalia-Theater inszenierte. Lulu: die Aufgeriebene zwischen bürgerlicher Scheinmoral und der Verruchtheit einer bedenkenlosen Männermacht-Welt. Zu Beginn steht sie frontal zum Publikum, die Arme am Körper, aber die Handflächen ins Publikum geöffnet. Ein Angebot. Es steht und steht. Und steht. Das Gesicht zeigt, was man in den kommenden zwei Stunden nicht mehr sehen wird: einen träumerischen Menschen. Vielleicht eine Liebe träumend, in der man sich auflöst und doch unversehrt bleibt. Auf Thalheimers Bühne, wo alle in herzbeklemmende Finsternisse stürzen, ein geradezu lächerlicher Traum. Alle zerfleischen sich, die Lulu der schmächtigen Fritzi Haberlandt steuert das wenigste Fleisch bei. Bei ihr kommt man sofort bis auf die Knochen. So sieht sie aus, die nackte Wahrheit.
Diese einmalige Schauspielerin: ein erschütternder comickriger Wedekindskopf. Ganz feuerlose Hingabe, nicht flammendes Weib. Gummipuppe, die an der Wand hochgestemmt wird und sich gelangweilt auf den Kopf stützt, der ihr da im Unterleib wühlt. Ein Körper aus Einzelteilen, die sich nicht zu dem fügen wollen, was man Leben nennen könnte. Lulu als Rädchen im Ge-Triebe, das sich im stockend kalten Öl dieser Inszenierung freilich gefährlich unbedenklich mitdreht. Das Opfer? Immer auch Täter. Das ist Thalheimers böse wahrhaftige Menschwerdung.
Fünf Akte. Getrennt durch Bert Wredes jagende Gitarren-Bässe. In jedem Akt trägt Lulu ein anderes dünnes Fummelchen. Zieht immer wieder prüfend die Fingernägel über die Knie. Als Kind bekam sie da jedes Mal rote Striemen: Eine Wunde erst macht, dass wir uns spüren. Noch bevor sie Opfer von Jack the Ripper wird, ist wohl alles Blut aus ihr gewichen. Zum Schluss trägt dieses kleine eckige Wesen ein schwarzes Hemdchen; ein durchnässter, frierender Todesvogel.
Eine große weiße Bühnenwand war inzwischen unmerklich nach vorn gerückt. Rechts und Links strahlen Scheinwerfer, als zerfetzten sie Haut. Alle Körperumrisse auf diesem Weiß der Leinwand, eben noch riesengroß und unscharf, werden mit vorrückender Wand hart, winzig: Lulu auf Augenhöhe mit dem eigenen Schatten. Und das Foto eines Auges wird es sein, das am Ende, nach dem Tod des Mädchens, diese Leinwand ausfüllt. Bis wir noch einmal dieses Gesicht sehen. Das Lulu-Gesicht des Anfangs. Der Mensch, der für eine Erinnerung lächelt, die es nie geben wird. Wredes Musik, die kreischte wie die gequälte Seele einer Sirene, wird jetzt zart. Der Tod ist ein Poet.
Dieser Abend fängt an und geht nicht weiter: Teufelskreis-Drehungen einer Menschenvernichtungslitanei. Wedekinds Hurentragödie ist inzwischen so wenig skandalös, wie das Porträt einer Femme fatale noch erotisch wirkt. Wieder haben Thalheimer und sein ausgezeichnetes Ensemble einen Autor klug, kompromisslos vergegenwärtigt. Schauspiel, als könne man Bitterfieber, ausgelöst vom Leiden an heutiger Menschenwelt, in Eis malen. Und als malte man es dort in Eis, wo dieses a...
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