Welcher Russe befreite Prag?

Die Wlassow-Armee und der Prager Aufstand

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.
Ein in einigen Zeitungen veröffentlichter dpa-Text über den Prager Aufstand am 5. Mai 1945 suggeriert: »Ein Russe bringt die Wende: General Andrej Wlassow. Noch am 6. Mai marschieren rund 18000 Soldaten zur Unterstützung der Tschechen in Prag ein. Am gleichen Tag befreit die US-Armee das ostböhmische Plzen. Der Kampf um Prag ist entschieden.« Mitgeteilt wurde sodann, dass »in der kommunistischen Ära« stets nur die Befreiung durch die Rote Armee am 9. Mai gefeiert, aber »der Anteil von Wlassow« verschwiegen wurde. Woher der Autor seine »Weisheit« schöpft, kann vermuten, wer die Arbeiten des ehemaligen Wissenschaftlichen Direktors am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr (1960-1995) Joachim Hoffmann kennt, insbesondere dessen Bücher »Stalins Vernichtungskrieg« sowie »Die Tragödie der "Russischen Befreiungsarmee"« (beide bei Langen Müller/Herbig 1995/2003 neu erschienen). Der inzwischen verstorbene Militärhistoriker behauptete bis zuletzt, es sei »heute längst ein gesichertes Forschungsergebnis, dass nämlich Stalin einen Angriffskrieg gegen Deutschland vorbereitete, dem Hitler mit seinem eigenen Angriffskrieg nur kurz zuvorgekommen ist«. Des Weiteren ließ der im Unfrieden aus dem Institut Geschiedene wissen: »Die bestimmenden Kräfte im MGFA, die auch zu den Fürsprechern der von Fehlern und Fälschungen nur so wimmelnden Hetzausstellung gegen die Wehrmacht gehörten, hatten an einer Verbreitung der historischen Wahrheit über General Wlassow und die Russische Befreiungsarmee (ROA) kein Interesse.« Dazu gehöre »die Tatsache, dass die Stadt Prag eben von Truppen der Wlassow-Armee und nicht von denen der Roten Armee befreit worden war«. Dazu folgendes: Am 3. Mai 1945 suchten Karl Hermann Frank, einer der Führer der sudetendeutschen Henlein-Bewegung, seit 1943 Staatsminister im »Protektorat Böhmen und Mähren«, sowie von Natzmer, Stabschef bei Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, der die Befehlsgewalt über die Heeresgruppe Mitte (1,2 Millionen Soldaten) innehatte, zwecks Rapport Dönitz in Flensburg auf. Da Tschechien nur noch drei Wochen zu halten sei und ein Aufstand bevorstehe, wollten sie Kontakt zu den Westalliierten aufnehmen, mit Hilfe tschechischer Kollaborateure. Im Einvernehmen mit den Deutschen erklärte denn auch am folgenden Tag, am 4. Mai, die Nazimarionette Bienert das Ende des Protektorats, ernannte sich selbst zum stellvertretenden Staatspräsidenten und rief die Bevölkerung zu »Ruhe und Ordnung« auf. Flucht nach vorn. Seit dem 1. Mai hatte sich der tschechische Widerstand und Partisanenkampf zur gesamtnationalen Erhebung ausgeweitet, kulminierend im Prager Nationalaufstand. Bereits am 25. April 1945 hatte sich der Tschechische Nationalrat (CRN) zum bevollmächtigten Organ der seit dem 4. April im befreiten Kosice amtierenden Regierung der Nationalen Front der Tschechen und Slowaken erklärt. An der Spitze der CRN-Führung stand Universitätsprofessor Albert Prazak, sein Stellvertreter war der Kommunist Josef Smrkovsky. Ein weiterer Kommunist, Dr. Vaclav Vacek, übernahm den Prager Nationalausschuss. Die dem CRN nahe stehende militärische Gruppe »Bartos« unter General K. Kutlvasr, die sich vornehmlich auf Polizeitruppen des Protektorats stützte, besetzte am 5. Mai - ohne genaue Kenntnis der militärischen Lage - das Prager Rundfunkgebäude. Bis zum Abend war der Osten der tschechischen Hauptstadt in der Hand der Aufständischen. Ihnen gegenüber standen am westlichen Moldau-Ufer 7000 Wehrmachtsoldaten, aus der Prager Umgebung rückten 10000 Mann der Waffen-SS an. Deren Befehlshaber, Graf Friedrich Karl von Pückler, drohte, »jeglichen tschechischen Widerstand mit allen modernen Kriegsmitteln zu zermalmen« und den Stadtkern von Prag mit Spreng- und Brandbomben dem Erdboden gleichzumachen. Vergeblich wandte sich der bedrängte CRN an die Alliierten mit der Bitte um sofortige Hilfe. Die US-Truppen hatten am 27. April Cheb (Eger) erreicht, am 6. Mai zogen sie in Plzen (Pilsen) ein, wo am Vortag der tschechische Nationalausschuss die Macht übernommen hatte. Die 12. amerikanische Armeegruppe stoppte an der mit Moskau vereinbarten Linie Karlovy Vary-Plzen-Ceske Budejovice, obwohl der britische Premier Churchill US-General Eisenhower drängte, Prag vor der Roten Armee einzunehmen. Eisenhower und US-Präsident Truman hielten sich an die Abmachung mit Stalin, das Land seinem Einfluss zu überlassen. Man wollte nicht die in Aussicht gestellte sowjetische Unterstützung im Pazifik-Krieg gegen Japan riskieren. Nach dem Ausbruch des tschechischen Nationalaufstandes begann die Rote Armee ihre Prager Operation einen Tag früher als geplant, am 6. Mai. Zwei sowjetische Gardepanzerarmeen durchbrachen die faschistischen Linien nordwestlich von Dresden, schlugen sich durch das Erzgebirge und zogen am 9. Mai, gegen vier Uhr früh, in Prag ein. Sie konnten die Stadt ohne größere militärische Auseinandersetzung besetzen. Denn dem CRN, der eine blutige Zerschlagung des Aufstandes durch die noch übermächtigen Okkupanten befürchten musste, hatte tags zuvor mit Rudolf Toussaint, Wehrmachtsbevollmächtigter für Böhmen und Mähren, den kampflosen Abzug von Wehrmacht und SS ausgehandelt. Am 8. Mai, 16 Uhr, unterzeichnete Toussaint - unter dem Eindruck der Kapitulation in Reims am 7. Mai und der Prager Operation der Sowjets - das »Protokoll über die Kapitulation der deutschen Truppen«. In der Nacht zum 9. Mai setzten sich größere Wehrmachtsverbände aus dem Prager Raum gen Westen ab. Welche Rolle spielte nun in jenen Tagen die so genannte Russische Befreiungsarmee von Wlassow? Der einst Stalin ergebene und dekorierte General hatte nach Gefangennahme im Sommer 1942 Hitler seine Dienste angeboten. Denn: »England war immer ein Feind des russischen Volkes«, wie er in einem Brief begründete. Erst im Bündnis mit Deutschland gegen die anglo-amerikanischen Kapitalisten könne Russland seine Interessen wahrnehmen - im »neuen Europa« unter Hitler. In anderen Dokumenten ist die Rede vom notwendig-gemeinsamen Kampf gegen die »Plutokraten Englands und Amerikas«. Hitler jedoch blockte ab. Erst mit der Gründung des »Komitees zur Befreiung der Völker Russlands« im November 1944 im besetzten Prag erhielt Wlassow von Himmler die Erlaubnis, eine aus zwei Divisionen bestehende »Russische Befreiungsarmee« aufzubauen. Am 10. Februar 1945 wurde er mit deutschem Segen deren Oberbefehlshaber. Die 1. Division der Wlassow-Armee, als 600. Division dem V. deutschen Armeekorps untergeordnet, wurde im April 1945 aus Ostsachsen in den Raum Prag verlegt. Ihr kommandierender Generalmajor Bunjacenko kontaktierte eigenmächtig, ohne Wlassows Zustimmung, tschechische Militärs, darunter Kutlvasr. Vier Regimenter der 1. Division - darüber informierte schon ein tschechischer Schulatlas 1959 - bewegten sich am 6. Mai auf Prag zu. Am Tag darauf besetzten sie den Flugplatz Ruzyne (Rosin), stellten sich teilweise an die Seite der Aufständischen, bekämpften diese aber auch, so am Bahnhof Vrsovice. Am Abend des 7. Mai gab Bunjacenko den Befehl zum Rückzug und floh mit seinen Einheiten in amerikanisch besetzte westslowakische Gebiete. Der Kampf um Prag war da noch nicht entschieden. Erst am 14. Mai waren die letzten faschistischen Einheiten in Tschechien zerschlagen. 10000 Tschechen haben beim Aufstand ihr Leben gegeben, fast 2000 in Prag. Noch 12000 Rotarmisten waren in dieser letzten Kriegswoche gefallen. Wlassow war Anfang Mai in US-Gefangenschaft geraten; am 12. Mai wurde er an die Sowjetunion ausgeliefert und am 26. Augus...

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